Das erste Mal beim Ultraschall den Herzschlag des eigenen Kindes hören, die Bewegungen des Babys spüren, die am Anfang noch kaum merklich sind und dann zu richtigen kleinen Fußtritten werden: Eltern zu werden ist eine aufregende Zeit. 40 Wochen können sich werdende Eltern normalerweise ungefähr auf die Ankunft des neuen Erdenbürgers vorbereiten – doch manchmal schlägt das Schicksal zu. Das Kind kommt zu früh auf die Welt.
Dann verwandelt sich die Freude der Eltern in Sorge. Denn plötzlich liegt da dieses kleine, zerbrechliche Wesen: nicht größer als der eigene Unterarm, kaum schwerer als ein Salatkopf, mit durchscheinender Haut wie Pergamentpapier und nur daumendicken Oberschenkeln. Dieses winzige Wesen hängt an all diesen Schläuchen, überall piepen Monitore und oft können noch nicht einmal die Ärzte sagen, ob das Kind überhaupt überleben wird. Lungen, Nieren, Augen und Magen-Darm-Trakt sind meist unreif und der Organismus kann auf kleinste Störungen extrem reagieren, mit Infektionen oder gar Gehirnblutungen. Während die Kinder ums Überleben kämpfen, sind die Eltern zum tatenlosen Warten verdammt.
Diese Situation ist die Hölle. In Bulgarien, dem ärmsten EU-Land, kommt noch hinzu, dass niemand da ist, der den Eltern hilft. Es gibt keine Unterstützung in dieser traumatischen Situation. Und während auf medizinischer Ebene auch in Bulgarien alles für die Frühchen getan wird – sogar komplizierteste Operationen an dem gerade mal daumennagelgroßen Herzen der Babys sind möglich – bleibt die Eltern-Kind-Bindung durch die Plexiglaswände des Brutkastens und die Besuchszeiten oft auf der Strecke.
Bei der Entlassung aus der Klinik halten die vollkommen überforderten Eltern dann plötzlich ihr von einer Behinderung bedrohtes Baby in den Armen (siehe Infokasten rechts) und wissen nicht weiter. Und weil es keine Unterstützung gibt, weil mehr als jeder fünfte Bulgare unterhalb der Armutsgrenze von 145 Euro im Monat lebt und weil das weitgehend privatisierte bulgarische Gesundheitssystem hohe Selbstbeteiligungs- und Zuzahlungskosten vorsieht (die Selbstbeteiligung zählt zu den höchsten in der EU), geben viele Eltern ihre behinderten oder von Behinderung bedrohten Kinder in ein Heim.
Damit Frühchen in Zukunft nicht mehr so oft direkt von der Klinik ins Heim geschickt werden, gibt es seit Sommer 2017 das Projekt "Frühstart LEBEN" in Sofia. Gemeinsam unterstützen die Diakonie Frankfurt, die bulgarische Stiftung Prijateli (zu Deutsch "Freunde") und die Sheynovo-Frauen- und Geburtsklinik Frühchen und deren Eltern. Dabei liegt das Augenmerk vor allem auf Säuglingen, die bei der Geburt rund 700 Gramm oder weniger gewogen haben, denn bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit von Folgeschäden sehr hoch. "Unser Projekt hat drei Schwerpunkte: Die Förderung des Kindes, die Beratung der Eltern und die Hilfeplanung in dem interdisziplinären Team", erklärt Sigrid Unglaub, Leiterin der Integrationshilfen für Menschen mit Behinderung bei der Diakonie Frankfurt.
Aus bulgarischer Sicht ist vor allem eines am Konzept von "Frühstart LEBEN" ganz besonders: die Eltern und die kleinen Patienten werden sowohl im Krankenhaus als auch später in ihren eigenen vier Wänden betreut. Mobile, pädagogische Frühförderung gibt es bisher in Bulgarien nicht, der Schwerpunkt liegt eher auf der medizinisch-pflegerischen Betreuung. "Natürlich profitieren die Menschen vor Ort jetzt von den 30 Jahren Erfahrung, die wir als Diakonie bereits in der Frühförderung haben, aber es ist uns sehr wichtig zu zeigen, dass das für uns ein Austausch auf Augenhöhe ist und dass wir voneinander lernen wollen", sagt Unglaub. Deshalb habe man auch rund ein Jahr gemeinsam an einem Konzept gearbeitet, das für alle Beteiligten passt und das der Situation vor Ort gerecht werde.
Zu Beginn des Projekts gab es auch Unsicherheiten. "Wir hatten schon Zweifel, ob sich die Familien uns gegenüber öffnen, ob sie unsere Frühförderkraft zu sich ins Haus lassen", berichtet Unglaub. Wie berechtigt diese Sorgen sind, weiß Virjinia Schwarten von der Stiftung Prijateli, die die Mentalität in Bulgarien sehr gut kennt: "'My home is my castle', so denken viele Bulgaren. Bis zur Türschwelle sind sie offen und freundlich, aber es ist sehr schwierig, diesen einen Schritt weiter ins Haus zu kommen."
In der Sheynovo-Klinik stellt deswegen die betreuende Hebamme den Eltern der Frühchen das Projekt vor. Als Vertrauensperson ist sie quasi der "Türöffner". Sind die Eltern interessiert, kommt Madlen Maksimova Eftimova hinzu, die Frühförderkraft von "Frühstart LEBEN". Solange die Babys noch in der Klinik sind, versucht Eftimova das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. "Eine Frühgeburt ist für die Familien eine schwierige Situation, sie verändert den Alltag und stellt sie vor ernste Herausforderungen. In dieser ganz komplizierten Situation ist es wichtig für die Eltern, die Gefühle, die sie erleben, zu begreifen. Und sie sollen sich der Tatsache bewusst sein, dass sie eben nicht alleine sind", sagt Eftimova. Es ist ihr ein großes Anliegen, die Eltern zu beraten und ihnen zu helfen – dafür hat sie sogar eine andere Arbeitsstelle aufgegeben. "Sie ist mit Herz und Seele dabei", lobt Schwarten ihre Mitarbeiterin, "sie schafft den Spagat zwischen Klinikum, Büro und den Familien und macht dabei mehr als eigentlich von ihr verlangt werden kann." Eftimova hat einen Magister in Spezieller Pädagogik, hat als Freiwillige in der "Assoziation der Eltern von Kindern mit Nierenkrankheiten" mitgearbeitet und war zusammen mit der Chef-Hebamme des Sheynovo-Klinikums im Sommer für ein Kurzpraktikum bei der Diakonie Frankfurt.
Wie viel Förderung ein Kind braucht, bestimmt Eftimova gemeinsam mit dem Neonatologen der Klinik, dem behandelnden Arzt des Kindes und der Hebamme. Das kann je nach Entwicklung ganz unterschiedlich sein – zu manchen Kindern fährt sie zwei Mal die Woche für eine Stunde, bei anderen reicht eine Stunde pro Woche. Außerdem schaut die Frühförderkraft, wie viel Beratung und Unterstützung die Eltern brauchen, um die Situation zu meistern. "Die Eltern bangen natürlich, ob sie der Lage gewachsen sind und was sie noch erwartet", sagt Eftimova. Da kann es auch schon mal vorkommen, dass die Eltern in sogenannte "Aktionismus-Schleifen" verfallen und ihr Baby von einem Arzt zum nächsten schleppen – dann ist Madlen Eftimova da, um beruhigend auf die Eltern einzuwirken und sie in dem Prozess zu begleiten.
Viele Eltern wollen ihren Kindern möglichst viel anbieten, damit sie sich gut entwickeln. Sie verzweifeln dann, wenn das Frühchen dieses Angebot nicht annehmen kann. Ein Trapez, bei dem jeder Anhänger verschiedene Geräusche macht, hat ein betreutes Kind zum Beispiel so überfordert, das es sich jedes Mal vor Aufregung übergeben musste: "Wir konnten ihr dann vormachen, dass weniger manchmal tatsächlich mehr ist. Es braucht eben nicht zehn Spielsachen mit 20 Geräuschen, sondern es braucht eine Ansprache, Zuwendung und Körperkontakt", so Sigrid Unglaub, die einmal in der Woche mit Eftimova über die Pläne für die zu betreuenden Frühchen spricht.
Ursprünglich sollte Eftimova 15 Familien begleiten, mittlerweile sind es aufgrund der langen Fahrtstrecken innerhalb Sofias nur noch zehn. Dazu kommen die Frühchen, die sie in der Klinik betreut. Der Bedarf an Hilfe in diesem Bereich ist aber deutlich größer. Deshalb hofft Unglaub von der Diakonie Frankfurt auch, dass Anfang nächsten Jahres genug Geld dafür da ist, um eine zweite Frühförderkraft einzustellen. Die Kosten dafür belaufen sich auf 9.000 Euro. "Die Familien sind dankbar, dass dieses Programm existiert und sprechen über die Unterstützung auch mit anderen Familien", erzählt Eftimova. Dieser neue "Freundeskreis" der sich langsam bildet, ist aus Sicht von Virjinia Schwarten Gold wert: "Von Eltern zu Eltern kann die größte Hilfe kommen, denn sie sind die einzigen, die wirklich verstehen, wie es ist, in dieser Situation zu sein."
Denn Eltern von behinderten Kindern haben es in Bulgarien besonders schwer. Menschen mit Behinderung werden dort sehr stark stigmatisiert und diskriminiert. Sich bewusst dafür zu entscheiden, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, ist in Bulgarien fast undenkbar. "Bei uns ist die Pränatal-Diagnostik sehr weit fortgeschritten und Kinder, deren Behinderung bereits im Mutterleib feststellbar ist, werden größtenteils abgetrieben", erzählt Virjinia Schwarten. In Sofia leben rund drei Millionen Menschen, Behinderte sehe man auf der Straße jedoch so gut wie nie. Diese Menschen seien unsichtbar. Ein Kind mit Behinderung werde oft von den Eltern eingesperrt und versteckt, wenn es nicht gleich in ein Heim auf dem Land gegeben wird. Einen Kindergarten oder eine Schule besuchen viele trotz Schulpflicht nie. "Ich kenne Eltern, die fahren jedes Mal in eine andere Stadt, um dort Medikamente für ihr Kind zu kaufen. Sie können das nicht zu Hause tun, weil sie viel zu viel Angst haben, dass irgendjemand erfahren könnte, dass sie ein behindertes Kind zu Hause haben", berichtetet Schwarten. Deswegen unterstützt sie mit Prijateli gerade in Sofia auch den ersten Kindergarten, in den auch Kinder mit Behinderung gehen können.
Weil es Kinder mit Behinderung und deren Eltern in Bulgarien so schwer haben, hilft ihnen "Frühstart LEBEN" mit ambulanten, mobilen Angeboten zur pädagogischen Frühförderung. Aber es gab auch Kritiker, so Sigrid Unglaub. Die fragten, warum die Diakonie ein Projekt in Bulgarien unterstützt, wo es doch auch in Deutschland Menschen mit Problemen gibt, denen geholfen werden muss. Die habe sie mit zwei Argumenten überzeugt: Zum einen sei der Einsatz für Kinder im Allgemeinen und für Frühchen im Besonderen immer eine gute Sache und zum anderen "ist es für mich auch immer ganz wichtig in dieser Zusammenführung von Europa auch wirklich auf humanitärer Seite sich für Europa einzusetzen und dadurch auch die armen und ärmsten Staaten wie Bulgarien zu fördern".
Spendenkonto für "Frühstart LEBEN"
Wenn Sie mit einer Spende dem Projekt "Frühstart LEBEN" helfen wollen, geht das per Überweisung oder Online-Spende. Das Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik, zu dem auch evangelisch.de gehört, wird das Projekt außerdem mit dem Erlös seiner Weihnachtstombola unterstützen:
Empfänger: Diakonisches Werk Frankfurt
Evangelische Bank eG
IBAN: DE11 5206 0410 0104 0002 00
Verwendungszweck: Frühstart LEBEN
Online-Spenden sind hier möglich.