Nachwuchsmangel im Kirchenchor: Kreativität aus Not

Chor steht in einem farbig beleuchteten Altarraum einer Kirche.
Foto: Joergelman/pixabay
Mehr als nur gemeinsam singen: "Der Kick sind Konzerte", sagt Chorleiter Martin Kahle.
Nachwuchsmangel im Kirchenchor: Kreativität aus Not
Kirchenchöre sind im Protestantismus eine feste Burg. Doch diese Größe wankt. Mehr und mehr reagieren Chorleiter und Fachverlage auf den Strukturwandel in den Gemeinden mit Flexibilität und Fantasie.

"Kirchenmusik ist eines der Fundamente kulturellen Lebens in Geschichte und Gegenwart. Über ihren kirchlichen Verkündigungsauftrag hinaus entfaltet sie kulturelle Prägungskraft in die Gesellschaft hinein." So heißt es in der Resolution zur Kirchenmusik in Deutschland vom Oktober 2010. Eine wesentliche Säule der Kirchenmusik, stellt die Resolution fest, sei das vokale Musizieren. Doch diese Säule weist mehr und mehr Risse auf. Unter jungen Menschen hat die professionelle Ausbildung zur Kantorin oder zum Kantor an Attraktivität verloren. Kirchenchöre kämpfen mit Überalterung, ausbleibendem Nachwuchs sowie Imageproblemen.

Die Abwendung vieler Menschen von traditionellen Bindungen an die Kirche treffen die Kirchenmusik besonders schmerzhaft. Für immer weniger Menschen ist der regelmäßige persönliche Einsatz für musica sacra selbstverständlich. Kirchenchöre müssen sich gegen eine neue, säkulare Chorkultur behaupten. Projektchöre, Gospel- und Barbershop-Ensembles florieren, insbesondere in Städten.

Martin Kahle kennt die Erosion des Chorwesens aus erster Hand. Der 64-jährige ist Hauptkantor, Organist und Chorleiter der Evangelischen Kirchengemeinde Meckenheim, seit 25 Jahren. Mit der Kantorei hat er sich der Gestaltung festlicher Gottesdienste verschrieben und singt Oratorien, Messen und Kantaten. Mit dem Kammerchor widmet er sich vorwiegend anspruchsvoller A-capella-Literatur. "Seine Blütezeit", sagt Kahle, "verdankt das deutsche Chorwesen den Chortraditionen gerade der evangelischen Kirche. Heute müssen wir um diese Traditionen fürchten." Kahle beobachtet seit Jahren eine kulturelle Spaltung in der Gesellschaft: "Einige entdecken die Musikkultur für sich und werden aktiv. Andere werden von ihr überhaupt nicht mehr erreicht." Das trifft Kirchenchöre besonders, denn Kirche ist kein selbstverständlicher Anlaufpunkt für den Chornachwuchs mehr.

"Wir müssen einfach mehr Fantasie aufbringen", appelliert Kahle. In Meckenheim sei es einfach nicht gelungen, ein gutes Erneuerungssystem für alternde Chöre aufzubauen. "Je älter ein Chor wird, desto weniger junge Leute zieht er an." Um gegen den Trend Aufmerksamkeit für seine Chöre zu sichern, setzt Kahle beispielweise mit dem Kammerchor auf Projekte mit Besetzungen von zwölf bis 25 Sängern, und - wie viele andere auch - auf Gospel. Ganz oben auf der Skala steht für Kahle aber die Weiterentwicklung von schlichten Aufführungen zu Erlebnissen im religiösen Kontext. "Der Kick sind Konzerte", lautet Kahles Zukunftsformel. Es gehe um Dramatisierung und Inszenierung von Stoffen und Stücken. Kirche im evangelischen Verständnis werde konkret, "wenn Menschen etwas erleben".

Mehr als nur Deutsch und Latein

Mit großem persönlichen Einsatz und einem langen Atem setzt sich Brigitte Rauscher für eine lebendige Chorszene in der Evangelischen Kirche Troisdorf ein. Sie ist vor 15 Jahren in der Gemeinde mit dem Ziel angetreten, "eine qualitativ hochwertige Chorarbeit aufzubauen und eine gute Altersdurchmischung zu erreichen", erzählt die Kantorin. Die Webseite der Gemeinde verrät die differenzierte Vorgehensweise der 55-jährigen. Die Gemeinde in Troisdorf hat die Jugendkantorei, den Kinderchor, die Singschule, den Singkreis, die Formation "Alte Stimmen", die Kantorei. Letztere vereint Sängerinnen und Sänger unterschiedlichen Alters mit dem Ziel, "Literatur unterschiedlicher Gattungen, Stile und Sprachen in Gottesdienst und Konzert erklingen zu lassen, die eigenen stimmlichen und musikalischen Fähigkeiten über den Chorgesang zu pflegen und zu vertiefen". Die Gemeinde habe zwar seit 2000 ein Siebtel ihrer Mitglieder verloren, berichtet die Kantorin. Dennoch sei es gelungen, sich mit dem Gesang gegen den Trend des Niedergangs zu behaupten. Das Rezept? "Keine stilistischen Grenzen", sagt sie, "und die Bereitschaft zur Fortbildung."

Rauscher experimentiert: "Wir sind in unserer Gemeinde offen für lockere Bindungen." Selbstverständlich werden Projektchöre angeboten, dazu Stimmbildungsworkshops, offenes Singen, Ferienchor. Mit solchen flexiblen Formaten, hat sie erfahren, lassen sich Menschen anziehen, die der ansonsten Kirche fernstehen - besser als mit dem traditionellen Kirchenchor. Beim "offenen Singen", erläutert die Kantorin, kommen wöchentlich über 20 Erwachsene jeden Alters zusammen. Jede Probe ist eine in sich geschlossene Einheit, so ist der Einstieg jederzeit möglich. Rauscher: "Regelmäßige Teilnahme wird begrüßt, ist aber nicht Voraussetzung." Das Experiment habe auf jeden Fall Zukunft: "Ein Teil kommt spontan wieder, ein Teil nicht." Die Kantorin bestätigt so eine in etlichen evangelischen Gemeinden beobachtete Tendenz: Gerade Chöre sind eine geeignete Plattform, Kontakte an einem neuen Wohnort zu knüpfen und soziale Kontakte aufzubauen. Aber nur, wenn das Chorsingen einen offenen Eindruck macht und neue Sängerinnen und Sänger auch in alten Formationen willkommen geheißen werden.

Auch die Sprache der Lieder spielt eine Rolle, hat Rauscher erlebt. Es sei notwendig, überkommene Barrieren zu überwinden. Traditionell werde auf Deutsch oder Latein gesungen, aber diese Selbstbeschränkung empfänden manche als überholt. Ihr Ferienchor hat 2016 bei der Einstudierung von Liedern aus der Iona-Community auch auf Englisch gesungen. 2012 hat die Kantorei den Llibre Vermell de Montserrat umgesetzt, eine berühmte Sammlung spätmittelalterlicher Lieder und Tänze mit zum Teil katalanischen Texten. Rauscher bietet ihren Sängerinnen und Sängern auch Lieder auf Französisch, Portugiesisch und Schwedisch, die "mit großer Begeisterung" gesungen werden.

Am Ende nur noch eine Stimme und die Orgel?

Auch für Verlage, die sich auf Kirchenmusik spezialisiert haben, ist die Erosion der Kirchenchöre eine Herausforderung. Sie müssen ihr Angebot an Noten und Stimmsätzen den Veränderungen anpassen. Der Bonner Verlag Dr. J. Butz ist seit 1924 auf Vokal- und Orgelmusik spezialisiert und spürt die Veränderung: "Man singt häufig nicht mehr vierstimmig, also Sopran, Alt, Tenor, Bass, sondern dreistimmig: Sopran, Alt, Bariton", beschreibt der Verleger Hans-Peter Bähr (51), selbst Musikwissenschaftler, den Trend. " Es gibt auch schon Chöre, die ganz auf Männer verzichten müssen und sich dann nur noch im Oberstimmenbereich bewegen." Auch darauf hat sich der Verlag durch eine Neuausrichtung seines Programms eingestellt, einen Schwerpunkt mit Literatur für dreistimmig singende Chöre aufgebaut und so Wege aus dem Dilemma aufgezeigt. Als Beispiel nennt Bähr Mendelssohn Bartholdys Motette "Denn er hat seinen Engeln befohlen", bekannt auch als Bestandteil seines Oratoriums Elias: "Die ursprüngliche Fassung für Orchester und Chor haben wir umgeformt in ein Arrangement für Chor und Orgelbegleitung."

"Not", lautet Bährs Devise, "bringt Kreativität hervor." Mit großer Nähe zu seinen Kunden, den Chören, arbeite der Verlag daran, Wünsche zu erfülle, hochwertige Chorsätze herauszubringen und die Preise für die Noten erschwinglich zu halten. So werde etwa Material editiert, das im Stimmumfang reduziert und so leichter singbar sei, weil das älteren Stimmen mehr entgegen kommt. Die Fantasie des Verlegers reicht so weit, sich in die Lage von Gemeinden hineinzuversetzen, die einmal gänzlich ohne Kirchenchor auskommen müssen. "Ganz am Ende der Entwicklung könnte es den Extremfall geben, dass mit einer einzigen Stimme und der Orgel ein ganzer Gottesdienst gestaltet wird. Hierfür haben wir eine Reihe 'Sologesang mit Orgel' eingerichtet und dafür jetzt die erste Messe herausgegeben." Eine Zukunft, die sich alle Freundinnen und Freunde des mehrstimmigen Chorgesangs nicht wünschen können.

Wir suchen übrigens noch Chöre, die bei unserer "500 Chöre"-Challenge auf www.reformaction2017.de/500choere mitmachen!  Wer bis zum 30. April 2017 sein Video von "Ein feste Burg" hochlädt, kann ein Video-Porträt über seinen Chor gewinnen, das hier auf evangelisch.de läuft. Aus allen Teilnehmern wird ein Gewinner ausgesucht und per E-Mail von uns benachrichtigt!