«Du lebst weiter und dafür hasse ich Dich»

epd-bild / Werner Krüper
Die Vorwürfe Sterbender können Pflegekräfte stark belasten.
«Du lebst weiter und dafür hasse ich Dich»

Die Vorwürfe Sterbender belasten Pflegekräfte massiv, sagt der Supervisor Andre Müller. Solche Vorwürfe seien Reaktionen auf eine große Hilflosigkeit.
17.11.2015
epd
Dieter Sell (epd-Gespräch)

Lilienthal (epd)Pflegekräfte sind in Grenzsituationen oft Vorwürfen sterbender Patienten ausgesetzt, die sie massiv belasten. "Das sind persönliche Angriffe wie: Du lebst weiter, ich muss sterben - und dafür hasse ich Dich", sagte der Supervisor Andre Müller aus Lilienthal bei Bremen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der 40-jährige ausgebildete Krankenpfleger berät Beschäftigte in helfenden Berufen und Ehrenämtern im Umgang mit traumatischen Situationen. Solche Vorwürfe seien oft Reaktionen auf eine Hilflosigkeit "an den Rändern der irdischen Existenz", die auch Angehörige verspürten.

Schwere Vorwürfe

"Angehörige werfen Pflegenden beispielsweise vor, sie hätten den Vater oder die Mutter totgespritzt", verdeutlichte Müller. Was für diejenigen, die den Angriff formulierten, im Augenblick Rettungsanker in einer schier ausweglosen Situation sei, könne bei Pflegekräften auf Dauer in einem Burn-out enden. "Es gibt Menschen, die gut damit umgehen können, wenn sie derart mit Trauer und Tod konfrontiert werden. Andere können sich schwerer von Vorwürfen abgrenzen."

Als Krankenpfleger in der forensischen Psychiatrie hat Müller 2006 selbst einen Angriff erlebt, der sein Leben veränderte: Ein Patient stach ihn mit einem Küchenmesser nieder und verletzte ihn dabei lebensgefährlich. "Das Urvertrauen, dass mir nichts passieren kann, war weg", erinnerte sich Müller. Er habe plötzlich Todesängste und Panikattacken gehabt und konnte in der Forensik nicht mehr weiter arbeiten. Nach einer Traumatherapie begann ein Weiterbildungsstudium zum Supervisor.

Guter Ausgleich: Bewegung

In Pflegeheimen, Krankenhäusern und Hospizen arbeiteten Pflegekräfte, die einen Raum zur Reflektion bräuchten, um Ängste, Wut und Traumata von Patienten und Angehörigen verstehen zu können, sagte Müller. Das treffe ebenso auf pflegende Angehörige zu, die auch existenziellen Vorwürfen ausgesetzt seien. Das Problem wegzuschieben und zu verschweigen, sei nicht die richtige Strategie und könne in eine Depression führen.

Betroffenen stellt der Experte ein dreistufiges Reaktionsmodell vor, um das zu vermeiden: "Abgrenzen, Ausgleich suchen und aussteigen. Wobei Ausstieg auch bedeuten kann, Aktivitäten mehr ins Private zu verlagern und nicht nur, den Job zu wechseln - was aber auch unbedingt bedenkenswert ist." Ein guter Ausgleich ist Müller zufolge schlicht Bewegung: "Durch den Wald laufen, Radfahren, mit dem Hund gehen - das baut Spannungen ab. Und ist definitiv besser, als Zigaretten, Alkohol, Tabletten oder sich vor den Fernseher zu legen."