Der Zug aus Budapest fährt auf Gleis 26 ein. Valid stellt sich auf die Zehenspitzen, versucht einen Blick auf die aussteigenden Fahrgäste zu erhaschen. "Meine Tante und ihre drei Kinder sitzen in dem Zug", erzählt der junge Syrer, während er sich suchend umschaut. "Sie waren ein Jahr lang auf der Flucht, zuletzt saßen sie in Budapest fest - vier Tage lang auf dem Boden schlafen und nur trockenes Brot zum Essen", erzählt er leise. "In Deutschland ist das zum Glück anders."
Valid ist nicht allein am Gleis 26 am Münchner Hauptbahnhof. Seit am Samstag bekannt wurde, dass wieder Tausende Flüchtlinge aus Ungarn und Österreich ankommen werden, haben sich erneut viele Münchner auf den Weg gemacht, um zu helfen und um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Dutzende Schaulustige und Angehörige stehen nun am Gleis und warten, dass die Flüchtlinge aus dem Zug kommen. Valid freut's: "Das ist einfach nur toll. Die Leute jubeln und winken den Flüchtlingen zu."
Valid erinnert sich derweil an seine eigene Flucht vor drei Jahren. "Damals war alles noch einfacher", sagt der 25-Jährige. Zu Fuß und per Boot habe er sich mit seiner Frau und seinen Kindern über die Türkei bis nach Griechenland durchgeschlagen. Von dort aus seien sie dann nach Deutschland geflogen. Ein Chaos wie in Ungarn, wo seit Tagen Tausende Flüchtlinge an der Weiterreise gehindert oder aus Zügen gezerrt werden - undenkbar, sagt Valid. Dann schnell noch ein "Tschüss", er hat tatsächlich seine Tante und Cousins entdeckt.
Von nebenan dringt derweil in regelmäßigen Abständen lauter Jubel in den Hauptbahnhof. Vorm Nordeingang hat das Medizinische Katastrophen-Hilfswerk Deutschland Zelte aufgebaut, wo die Flüchtlinge ärztlich durchgecheckt werden. Jedes Mal wenn einer von ihnen aus dem Zelt kommt, gibt es Beifall oder andere Willkommensbekundungen der Münchner. Die Flüchtlinge schauen ein wenig verwundert, lächeln, manche winken schüchtern. "I love Germany", ruft ein Syrer den Münchner zu, wieder Beifall.
Zwei, die in der Menge fleißig Beifall klatschen und jubeln, sind Mariam und Charlotte. Hinter der Absperrung beim Medizin-Check halten sie ihre Papp-Schilder mit der mit Herzen verzierten Aufschrift "Refugees welcome!!!" hoch. "Wir haben heute in den Nachrichten gehört, dass wieder Flüchtlinge ankommen sollen. Da sind wir sofort los", erzählen die jungen Frauen. Das sei zwar alles eine Spontanaktion gewesen. "Aber wir müssen doch diese Menschen willkommen heißen."
Bedford-Strohm und Marx schütteln Neuankömmlingen die Hand
Auch der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und der Münchner Erzbischof Reinhard Marx haben am Samstag beim gemeinsamen Mittagessen spontan den Entschluss gefasst, die Flüchtlinge zu begrüßen. Sie schütteln Hände und streichen Kindern über den Kopf. Zugleich mahnen die Bischöfe einen menschlichen Umgang mit den Flüchtlingen an.
Die Menschen, die hier ankämen, seien verzweifelt und hätten Schlimmes erlebt, sagt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bedford-Strohm, dem epd. Dennoch hätten sie die Hoffnung, in Deutschland mit Menschlichkeit und Würde behandelt zu werden. Diese Hoffnung müsse Deutschland nun erfüllen. Kardinal Marx sagt, oberste Priorität müsse sein, dass niemand mehr an den Grenzen Europas ertrinke oder ersticke. "Das muss der Maßstab der Politik sein, dass wir alles dafür tun." Der Polizei, den Ehrenamtlichen und den Münchnern, die die Flüchtlinge am Bahnhof begrüßten, dankt er. Dass Menschen, die aus tiefster Not nach Deutschland kommen, so willkommen geheißen werden, "finde ich wunderbar".
Am Sonntag mahnt der EKD-Ratsvorsitzende die politisch Verantwortlichen in Europa, sich in der Flüchtlingsaufnahme endlich zu einigen. Es sei höchste Zeit, "dass das europäische Chaos bei Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge aufhört und endlich alle ihren fairen Anteil an einer humanen Aufnahme der Flüchtlinge tragen", sagt er in einem Gottesdienst in Kleinwalsertal.
Bereits Anfang der Wochen waren innerhalb von zwei Tagen mehr als 3.000 Flüchtlinge, die über Ungarn und Österreich eingereist waren, am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Die Bilder der Münchner Gastfreundschaft - etwa von den vielen freiwilligen Helfern, Bergen von Spenden, mit Flüchtlingskindern spielenden Polizisten - gingen um die Welt.
10.000 Menschen bereits in München
In Österreich sind am Wochenende mehr als 14.000 Flüchtlinge aus Ungarn eingetroffen. Tausende werden noch erwartet, fast alle wollen nach Deutschland weiterreisen. Die österreichische Bundesbahn habe von Samstag bis Sonntagnachmittag bereits mehr als 13.000 Flüchtlinge nach Deutschland gebracht, sagte ein Sprecher des Innenministeriums in Wien am Sonntag dem epd. Der "Transferdruck nach Deutschland" habe am Sonntag nicht abgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete die Einreise über Ungarn und Österreich als "Ausnahme".
Mindestens 10.000 Flüchtlinge sind nach Angaben bayerischer Behörden und der Bundespolizei am Wochenende allein am Münchener Hauptbahnhof eingetroffen. Stündlich wurde dort am Sonntagabend weitere erwartet. Helfer versorgen sie mit Getränken und Speisen.
Zudem werden Tausende Flüchtlinge mit Bussen oder Sonderzügen von Wien aus direkt in die jeweiligen Bundesländer gebracht. So wurden in Dortmund bis Sonntag 1.500 Flüchtlinge erwartet, etwa 700 erreichten Niedersachsen, mehrere hundert kamen nach Frankfurt am Main.
Die Bundeskanzlerin bezeichnete die Einreise Tausender Flüchtlinge über Österreich und Ungarn nach Deutschland als "Ausnahme". Darin sei sie sich mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán einig, teilte der stellvertretende Pressesprecher der Bundesregierung, Georg Streiter, am Samstagabend mit. Grund für die Zustimmung zur Weiterreise sei die Notlage an der ungarischen Grenze gewesen. Die Kanzlerin hatte den Angaben zuvor mit Orbán telefoniert.
Die Entscheidung der Kanzlerin sorgte allerdings für Streit in der Union. Nach Informationen der "Bild am Sonntag" kritisierte das CSU-Präsidium die Einreiseerlaubnis in einer eigens einberufenen Telefonschalte als "falsche Entscheidung des Bundes"; SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi lobte sie indes als "die einzig richtige" angesichts der humanitären Situation.