Einleitung: Von der Kunst, die Instrumente der Freiheit zu bedienen

Einleitung: Von der Kunst, die Instrumente der Freiheit zu bedienen
Das Netz als sozialer Raum: Kommunikation und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter
Dieses Impulspapier will ein Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) zur Zivilisierung der digitalen Welten sein.
25.08.2015
Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
A. Filipovi?, J. Haberer, R. Rosenstock, I. Stapf, S. Waske, T. Zeilinger

Im Rahmen der Reformationsdekade erinnern die reformatorischen Kirchen im Jahr 2015 unter dem Motto Bild und Bibel an die Reformation als ein Medienereignis, ja, als eine Medienrevolution. Hatte doch der um 1450 von Johannes Gutenberg erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern erst die Grundlage geschaffen für die vehementen publizistischen Auseinandersetzungen, die einsetzten, nachdem Martin Luther seine 95 Thesen zum Ablass der römischen Kirche veröffentlichte.

Die neue Drucktechnik ließ die Zahl der Publikationen explodieren. Dass in einer nie dagewesenen Weise, über alle Schichten der Bevölkerung hinweg, theologisch diskutiert wurde, hatte allerdings Luthers biblisch begründete Entdeckung des "Priestertums aller Getauften" eröffnet. Alle Christinnen und Christen waren demnach fähig (oder zu befähigen), die Heilige Schrift zu lesen und zu verstehen, um gemeinsam über deren Auslegung und Fragen des Heils und des Wohls zu ringen. Aus der theologischen Erkenntnis, dass jeder einzelne Christenmensch seinen Glauben selbst verantworten muss und darf, entstand eine Beteiligungskultur, die ihren Ausdruck fand in einer lebendigen Vielfalt der Meinungen, in unterschiedlichen Autoren und Publikationen, in der Blüte des Druckergewerbes sowie darin, dass nun öffentliche Meinungsäußerungen in einer bisher ungekannten Geschwindigkeit publiziert wurden.

Der Beginn der Gutenberg-Ära ging also einher mit dem Befähigungs- und Beteiligungsgedanken der Reformation. So begann ein Zeitalter, in dem über Medien transportierte Kritik das Muster für Meinungs- und Deutungsvielfalt konstruierte, neue Öffentlichkeiten schuf und in der Folge herkömmliche Institutionen und Autoritäten auf den Prüfstand stellte.

Der reformatorische Aufbruch brach die alleinige Deutungshoheit der geistigen und geistlichen Weltmacht Rom. Er zeigte eine geistliche Alternative auf und zwang so die römische Kirche – die beanspruchte, alle Lebensbereiche der Menschen monopolistisch zu beherrschen – zur Diskussion. Auch Zensurmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass eine Ahnung dessen, was (neben der reformatorischen Erfahrung der bedingungslosen göttlichen Gnade) Beteiligung, Meinungs- und Publikationsfreiheit heißen könnte, die damalige Welt in ihren Fundamenten erschütterte. Politische Forderungen nach Freiheitsrechten waren die Folge – und ein verändertes Gesicht der Welt.

Der Impuls der Befreiung in Luthers Schriften, Art und Geschwindigkeit ihrer Verbreitung, der kritische Widerspruch gegenüber Monopolen von Meinungsmacht und Lebensdeutung sowie die Beteiligung des einzelnen Christen an der Suche nach der Wahrheit des Glaubens in seiner jeweiligen Zeit, sind ein Erbe der Reformation, das heute Christen aller Konfessionen aufgetragen ist. Dieses Erbe verpflichtet die Kirchen, die Entwicklung der Medien, der medialen Kommunikation, deren Chancen und Risiken, ihre Diskurse und kritischen Potenziale zu begleiten. Es verpflichtet Christen in der Gesellschaft, die Bedingungen der Kommunikation zwischen Menschen sowie die technischen Voraussetzungen dafür zu reflektieren. Medien sind aus dieser Tradition heraus als Instrumente der Freiheit und neuer Wahlmöglichkeiten zu verstehen. Dass die neuen Medien, insbesondere die Social Media, auch Risikopotential in sich bergen, liegt auf der Hand.

Voraussetzung, diese Bedingungen zu reflektieren, ist, dass die Qualität der Informationen, die in der Gesellschaft verbreitet werden, nach den Regeln und ethischen Maßstäben der Publizistik gesichert ist. Im Zeitalter der digitalen Kommunikation – in dem ähnlich wie im Reformationszeitalter zugleich Monopole die Wahrnehmung der Menschen dominieren und herkömmliche Autoritäten in Frage stehen – verpflichtet das reformatorische Erbe darüber hinaus, die Gesetze dieser neuen Kommunikationsformen angemessen und kritisch zu würdigen.

Der derzeitige Medienwandel zeitigt technische wie sozial-kulturelle Veränderungen, deren Auswirkungen derzeit nicht abschätzbar sind. Prognosen gleichem dem sprichwörtlichen Stochern im Nebel: Von Horror- bis Eldorado-Szenarien lassen sich je nach intentionaler Provenienz der Deuter alles finden. Klar dabei ist: Die Phänomene der digitalen Gesellschaft legen es nahe, die Vorstellung vom Menschen in diesem sozialen Raum (der aus vielen unterschiedlichen digitalen Welten besteht) neu zu beschreiben. Von dieser "Mediatisierung" sind Wissen und Wissenschaft ebenso betroffen wie Glaube und Gemeinschaft.

Die digitale Medienrevolution fordert heraus, die Frage nach der Zugangsgerechtigkeit zu neuen Kommunikationsmöglichkeiten, nach den Kommunikationsrechten Einzelner und von Gruppen, auf nationaler wie internationaler Ebene, zu stellen und wachzuhalten. Es gilt, die Balance zwischen den Ansprüchen der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Privat- und Intimsphäre zu justieren. Zudem sind die Folgen der neuen Kommunikationsmöglichkeiten für die "Menschenbildung", für politische und wirtschaftliche Systeme sowie zwischenmenschliche Beziehungen zu überdenken. Schließlich sind Kompetenzen und Bildungspotentiale zu bestimmen, die in den sich rasch verändernden technischen Umgebungen für nachhaltige Orientierung sorgen können.

Gott ist ein Gott der Liebe und der Freiheit. Aus dieser christlichen Überzeugung heraus können Christen die erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter unter den Leitgedanken "Befähigung" und "Beteiligung" stellen und als Chancen für ein selbstbestimmtes und selbstverantwortetes Leben würdigen. Dies verpflichtet zugleich, die Bedingungen der neuen kommunikativen Wahlmöglichkeiten und Freiheiten kritisch zu analysieren, also scheinbare von wirklichen Freiheiten zu unterscheiden.

Fraglos sind und bleiben die Freiheitsmöglichkeiten in den neuartigen sozialen Räumen erstrebenswert. Dennoch hat eine medienethische Betrachtung in theologischer Perspektive ein waches Auge darauf zu werfen, wer von diesen Freiheiten profitiert und welche negativen Konsequenzen für bestimmte Gruppen oder Einzelne damit verbunden sind.

Will man die Freiheit des Individuums und seine Entwicklungsmöglichkeiten wahren, wird man über Regeln für den neuen sozialen Raum nachdenken müssen. Ziel aller medialen Regulierung muss die Wahrung der Freiheit(en) sein, einer Freiheit, deren Komparativ Verantwortung ist (Trutz Rendtorff).

Die nachfolgenden Überlegungen sollen der notwendigen Diskussion in der Kirche wie in der Gesellschaft Anstöße geben. Es geht dabei um die Verantwortung für die zwischenmenschliche Kommunikation, ihre Freiheit und ihre Sicherheit. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (ELKB) fordert in diesem Papier nicht nur, sie verpflichtet sich auch selbst. Alle Maßnahmen, welche die ELKB unternimmt, stehen dabei unter dem Vorbehalt der haushalterischen Möglichkeiten.

Die folgenden Diskussionsimpulse wurden angestoßen durch die ELKB und die von ihr beauftragte Redaktionsgruppe, die sich aus Medienethikern, Philosophen und Theologen zusammensetzt. Sie richten sich an Nutzerinnen und Anbieter im Netz, an Netzaktivisten, an Verantwortliche in Bildungseinrichtungen und Kirchen, Medienschaffende und Medientechniker, sowie Theologie und Kulturwissenschaften an den akademischen Institutionen.

Dieses Impulspapier möchte die in den vergangenen Jahren entstandene öffentliche Debatte um die Handlungsmöglichkeiten der Politik, um infrastrukturelle Maßnahmen und technische Sicherungsmöglichkeiten ergänzen durch eine christliche Perspektive auf die Kommunikationskultur.

Gesellschaftliche Diskussionen sollen angeschoben, Interessen offengelegt, Schulterschlüsse zwischen unterschiedlichen Fachperspektiven initiiert werden. Es soll diejenigen Menschen zusammenbringen, die der Überzeugung sind, dass die Revolution der Kommunikationsmöglichkeiten neue politische und unternehmerische Verantwortung fordert – und dass sie neuer bürgerlicher Rechte und Kompetenzen bedarf.

Freiheit und Befähigung

Kern der reformatorischen Freiheitsidee ist, Freiheit stets als verantwortliche und dienende Freiheit zu verstehen. Freiheit entsteht und ist befreiende Beziehung – zu Gott und zu den Menschen, wo sie Nächste sind. Freiheit ist weder Willkür noch Beliebigkeit. Freiheit heißt auch nicht Bindungslosigkeit. Kommunikative Freiheit ist eine Freiheit, die zwischen Menschen herrscht und die nicht eine oder einer für sich haben kann. Diese Freiheit, die nur als "gebundene Freiheit" vorstellbar ist, findet ihren Grund in der Beziehung von Gott und Mensch.

Die Reformation hat die Sorge um das eigene Heil aus der Selbstbezogenheit befreit und die kreativen Potentiale der Menschen auf das Gemeinwohl, die zukunftsfähige Gestaltung des Zusammenlebens und die Verantwortung füreinander gerichtet. Eng verbunden mit dem reformatorischen Freiheitsgedanken ist die Idee der kommunikativen Befähigung.

Im Licht der modernen Medienkommunikation zeigt sich die Relevanz dieser beiden reformatorischen Leitideen auf neue Weise. Welche Fähigkeiten brauchen Mediennutzer, um die heutigen ebenso grandiosen wie auch mit Risiken behafteten Kommunikationsfreiheiten bewusst, verantwortungsvoll und im Dienst des Gemeinwohls einzusetzen? Wie können Bürger und "User" informationelle Selbstbestimmung und verantwortungsvolle Beteiligung an öffentlichen Diskursen gestalten? Wie lassen sich monopolistische Machtstrukturen kontrollieren? Wie können die neuen kommunikativen Freiheiten für den öffentlichen Frieden und für soziale Gerechtigkeit fruchtbar gemacht werden? Wie können die Risiken überschaubar gehalten werden?

Gemeinschaft und Beteiligung

Unsere Kommunikationswelten haben sich in den zurückliegenden Jahren radikal verändert. Was wir mit der fortschreitenden "Digitalisierung der Kommunikation" bezeichnen, erscheint als eine soziale Umwälzung ohne Vorbild. Neue mediale Techniken haben die zwischenmenschliche Kommunikation zwar schon immer revolutioniert. Allerdings geht es heute nicht einfach nur um Kommunikationstechniken, die sich verändert haben. Vielmehr wandelt sich mit ihnen unsere Kultur, die grundlegende Orientierung unseres Zusammenlebens.

Kommunikation ist horizontal geworden. An die Stelle einer hierarchischen vertikalen Kommunikation ("von oben nach unten") ist eine egalitäre Kommunikationswelt getreten, in der jeder zugleich Sender und Empfänger ist – oder jedenfalls sein kann. Privilegien in der Kommunikation sind schwerer zu begründen und aufrecht zu halten.

Die Netzakteure tragen als Mitglieder des neuen sozialen Raums große Verantwortung, weil Fragen nach Fairness, kommunikativer Gerechtigkeit und Befähigung nicht mehr an Institutionen adressiert werden können. Mediale Kompetenzen der Einzelnen sind deshalb von zivilgesellschaftlicher und staatsbürgerlicher Bedeutung. Netzakteure brauchen eine geschulte kritische Urteilskraft und müssen medien- wie technikethisch versiert sein.

Tribunal oder Transparenz?

Die Netzkultur ist eine Kultur des Teilens und Mitteilens in all ihrer Ambivalenz. Die Möglichkeiten des Netzes, Ideen, Texte, Bilder usw. der Netzöffentlichkeit mitzuteilen und in neue Zusammenhänge zu stellen ("Recht auf Remix"), veranlassen zu Fragen über das Recht auf geistiges Eigentum. Neue Demokratiebewegungen, Freundschaftsnetze, Interessens- und Betroffenengruppen, Forschungsnetzwerke und Diskussionsforen entstehen. Das Netz vervielfacht die Kommunikationsoptionen, es entgrenzt die erste Realität, überspringt räumliche und soziale Distanzen, es schafft neue Möglichkeiten virtueller Begegnung und Selbstdarstellung.

Dieselben Netz-Technologien bergen zugleich das Risiko des Missbrauchs. Missbrauch ist, wenn Netzakteure Daten ohne Wissen der User speichern und vernetzen (Screening). Missbrauch ist, wenn Netzakteure (unabhängig ob Einzelne im Kleinen oder große Netzakteure über ihren Zugang zu den Möglichkeiten von "Big Data") die soziale Kontrolle über Individuen übernehmen und sie bis in ihre intimen Räume entblößen. Missbrauch ist, wenn Netzakteure die Öffentlichkeit des Netzes nutzen, um andere bloßzustellen, zu kriminalisieren, sozial zu vernichten.

Die christlichen Kirchen blicken auf eine lange Tradition des Nachdenkens über die Gemeinschaft wie des Missbrauchs von sozialer Kontrolle in der christlichen Gemeinschaft zurück. Sozialer Ausschluss durch Gemeindezucht oder öffentlicher Pranger – derlei Instrumente der sozialen Isolation als Strafe für mangelnde Anpassung an die kirchlichen Normen sind in einem langen und noch andauernden Prozess der kritischen Selbstreflexion und der Aufklärung überwunden worden. Umso mehr müssen die Kirchen davor warnen, wenn der gegenwärtige Trend zur Tribunalisierung und zum öffentlichen Pranger die gesellschaftliche Kommunikation in ihrem Innersten zu zerstören droht.

Aus christlicher Perspektive soll Gemeinschaft als gleichberechtigt erlebt werden. Das gilt auch für das Netz. Die den Netzwerken zugrundeliegenden technischen Logiken müssen ebenso transparent und nachvollziehbar sein wie die unterschiedlichen Abstufungen von Eigentum und Herrschaft in der Netzgemeinde.

Mündigkeit und Bildung

Ähnlich wie im Zeitalter der Reformation wandelt sich der Prozess der Persönlichkeitsbildung des Individuums auch im digitalen Zeitalter. Die Reformation entdeckte den unmittelbaren Zugang des Einzelnen zu Gott und die Freiheit des an der Heiligen Schrift geschärften Gewissens. Es entstand ein spiritueller Freiheitsraum der Ich-Werdung des einzelnen Christen.

Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen, das Entstehen eines erwachsenen und autonomen Selbstbewusstseins erfolgt heute unter der digitalen Beobachtung der Social Media und der sich darin bildenden Freundeskreise.

Es gilt unter den Bedingungen der technischen Vernetzung neu zu definieren, was unter einer selbstbestimmten und intrinsisch (also aus sich selbst heraus) motivierten und gesteuerten Persönlichkeit zu verstehen ist. Es gilt, auf der christlichen Freiheit zu bestehen, in jedem Augenblick des Lebens ein anderer werden zu können und sich in neue und andere Kommunikationsräume weiterzuentwickeln.

Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten erweitern die Vielfalt der Beziehungen und Bindungen, der Vorbilder und der geistigen Impulse. Sie fordern zugleich eine neue Mündigkeit, eine digitale Lese- und Schreibfähigkeit ("digital literacy").

Die Reformation löste vor einem halben Jahrtausend einen breiten Alphabetisierungsschub und einen Umbau der Bildungssysteme aus. Immer mehr Menschen erhielten Zugang zu Wissen und Bildung. Wie in der Reformationszeit sind heute die Bildungseinrichtungen wie auch der Einzelne gefordert, Kompetenzen neu zu bestimmen und einzuüben. Das bedeutet, einen an die vernetzte Wirklichkeit angepassten Umgang mit Wissen und Bildung zu finden. Dazu gehört, immer neu Antwort auf die Frage zu suchen, wie aus den milliardenfachen Informationen im Netz jene Bildung wird, die erst ermöglicht, sich im scheinbar grenzenlosen Verfügungswissen zu orientieren.

Zur Bildung unter digitalen Bedingungen gehört der kompetente Umgang mit den modernen Kommunikationstechnologien. Es ist neu zu beschreiben, was es heißt, Texte, Bilder und Zeichen zu verstehen, zu deuten und sich in der Vielfalt der Sinnstiftungsangebote und Bewertungen zurechtzufinden.

Respekt und Würde

Ähnlich wie in der Zeit der Reformation wandelt sich gegenwärtig der Umgang mit Autoritäten in den politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kirchlichen Milieus. Die Reformation stieß gleichwohl unbeabsichtigt eine Bewegung an, welche die herrschenden kirchlichen und politischen Systeme grundsätzlich in Frage stellte, was wiederum zu blutigen Aufständen und Kriegen führte.

Auch die heutigen Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Beteiligung zeigen sich als ambivalent: Einerseits schaffen die durch die digitale Vernetzung entstehenden neuen und weltweiten Öffentlichkeiten für Millionen Menschen das Feld, grenzenlos zu kommunizieren. Sie können blitzschnell Informationen austauschen, Diktaturen in Frage stellen, Krisen bewältigen, Demokratien fördern oder Kriege verhindern – kurz, Dinge tun, die die Würde des Individuums stärken.

Andererseits bieten die neuen Technologien ebenso grenzenlose Möglichkeiten zur Totalüberwachung von Personen oder zur Zensur und Manipulation. Wie immer bei der ethischen Betrachtung von Technik geht es dabei auch um die Haltung und Intention der Menschen, die mit der Technik umgehen. Hier gilt es, die technischen Beobachtungsmöglichkeiten offenzulegen und die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stärken.

Es reicht nicht aus, die zwischenmenschliche Kommunikation rechtlich und informationstechnisch zu sichern. Es muss auch eine digitale Zivilcourage eingeübt werden, die radikalen und volksverhetzenden Kommentaren entgegentritt und überall dort die Stimme erhebt, wo Menschen erniedrigt und ausgegrenzt werden. Denn das Herz jeder Gesellschaft und Gemeinschaft ist betroffen, wenn Würde und Wertschätzung des anderen geringgeachtet werden, wenn die Unschuldsvermutung in der Öffentlichkeit abgeschafft erscheint, wenn das Empfinden dafür verwischt wird, dass zwischen Moral und Recht zu trennen ist, wenn sich Menschen anmaßen über andere zu urteilen – öffentlich, massenhaft und anonym.

Umkehr und Gnade

Der Totalanspruch, den die digitale Welt auf die Lebensvollzüge Einzelner und von Gesellschaften als Ganzes entwickelt hat, birgt nach Ansicht mancher Kritiker die Gefahr einer neuen Art von Totalitarismus, jenem der Perfektion. Die algorithmischen Logiken, Muster einer perfekten Welt der kurzen Lösungswege, verändern die Anthropologie des gott- und weltoffenen Menschen und befördern ein Menschenbild, das keine Unvollkommenheiten und keine gedanklichen Um- und Abwege zulässt. "Die spirituelle Weide schrumpft", formuliert Evgeny Morozov, einer der profundesten Kritiker moderner Netzkultur. Damit schwinden auch Freiheitsräume, aus denen Innovation, Tiefe und Kreativität entspringen. Demgegenüber hält der christliche Glaube fest, dass Vollkommenheit eine Eigenschaft Gottes ist und Menschen nach christlicher Überzeugung immer unvollkommen, unruhig, schuldig, auf der Suche sein werden – der Rechtfertigung bedürftig.

Vollkommenheit wird (auch das ist eine der reformatorischen Grundeinsichten) einem Menschen von Gott in Glaube und Rechtfertigung geschenkt. Sie wird ihm zugesprochen, nicht erarbeitet. Daraus ergibt sich eine Absage an die Mystifizierung der Technik und an den oft von großen Netzanbietern formulierten Anspruch, man könne mit Technik die Probleme der Welt lösen und das Leben der Menschen bis zur Perfektion optimieren. Diese Vision birgt nicht nur totalitäre Ansprüche: Denn bei allen Möglichkeiten effizienterer Nutzung von Ressourcen bedroht smarte Technik zugleich die originelle Lebensgestaltung eines jeden Einzelnen, weil sie Normierung fordert und den Menschen abhängig macht.

Christen rechnen mit der alles umfassenden Gnade Gottes. Die christliche Einsicht, dass der Mensch ein unvollkommenes Wesen ist und bleiben wird, ist eine Kritik aller Systeme, die mit einem Erlösungsanspruch auftreten und deshalb die Gefahr bergen, totalitär zu werden. Das Wissen um die Unvollkommenheit birgt dagegen die Freiheit, sich zu verändern, Fehler zu machen, sich neu zu erfinden – christlich gesprochen: umzukehren.

Geheimnis und Eigentumsvorbehalt

Die christliche Freiheit, in einer exklusiven Beziehung zu Gott sein Geheimnis zu haben und zu hüten (so wie es im Gebet und in der Beichte erfahrbar wird), ist eine der großen Freiheiten ist, die es in Zukunft zu verteidigen gilt, die Freiheit nämlich, ein Geheimnis zu haben.

Die neuen digitalen Techniken bieten Internetmonopolisten und Geheimdiensten die Möglichkeit, in private Sphären einzudringen, digitale Spuren zu verfolgen und so Zugriff zu erhalten zu Freundeskreisen, Fotoalben, Tagebüchern, dem privaten Briefverkehr und anderen, im Netz vermeintlich persönlichen Bereichen.

Der christliche Glaube spricht vom Eigentumsvorbehalt Gottes an jedem Menschen, davon, dass es in jedem Menschen einen "heiligen Bezirk" gibt, in dem der Kern der menschlichen Würde wohnt und der außer Gott niemandem zugänglich ist. Die Selbstbestimmung des Einzelnen über das, was er öffentlich machen oder was er geheim halten will, gilt es zu schützen, seine Selbstverantwortung zu schulen und in der digitalen Gesellschaft Strukturen zu fördern, die dem Einzelnen die Möglichkeit bewahren, über Veröffentlichung und Geheimhaltung zu entscheiden.