Es war eine ungewöhnliche Gruppe, die sich diesen Sommer auf den Weg machte, die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) "kritisch-solidarisch" zu erkunden. Das war die Aufgabe der 17 Gäste, die unter anderem aus Indonesien, dem Kongo, den USA, Polen, Tschechien kamen, um ihre Partnerkirche besser kennenzulernen. "Uns beschäftigt die Frage nach einer Kirche, die sich den Herausforderungen von heute und morgen stellt. Dabei ist uns der Blick von außen wichtig: Welche Impulse gibt es aus der weltweiten Ökumene?", sagt Barbara Rudolph, die in der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland für Ökumene, Mission und Weltverantwortung zuständig ist. "Wir wollten uns von den Partnerkirchen den Spiegel vorhalten lassen, damit sie uns ehrlich sagen, was ihnen auffällt", erklärt die Oberkirchenrätin das Vorhaben weiter. "Sich so zu öffnen ist ein Zeichen der Kraft und Offenbarung der Rheinischen Kirche", davon ist Bischof Ernst Gamxamub aus Namibia überzeugt.
Zehn Tage hatte die Gäste Zeit, die Landeskirche zu besuchen. Viel Zeit für eine Visite – aber reichte sie auch, um einen Eindruck von einer ganzen Landeskirche zu bekommen? "Wir haben sechs Themen vorbereitet und pro Region einen Themenschwerpunkt gesetzt", erklärt Rudolph. Nach einer dreitätigen Einführung im Landeskirchenamt gingen die Besucher in kleinen Gruppen in die verschiedenen Regionen und Gemeinden der Landeskirche und sammelten dort ganz individuelle Eindrücke.
"Wo sind die Gottesdienste, die für alle offen sind?"
"Bei den Visiten in den Gemeinden und Institutionen wurden wir herzlich empfangen und nahmen an sehr lebhaften, intensiven und offenen Gespräche teil", erinnert sich Evelyne Will-Mueller aus Frankreich. "Die Tatsache, dass wir bei Gemeindemitgliedern untergebracht waren, war eine tolle Möglichkeit, das Gemeindeleben näher zu erfahren", ergänzt sie. Robin Sautter, Pfarrer für die Eglise protestante unie de France, besuchte die Staatskanzlei im Saarland und ist immer noch beeindruckt: "Dass die Beziehung zwischen Kirche und Staat so eng ist, war für mich eine Überraschung. Die soziale Verantwortung zu tragen ist einerseits schön, aber andererseits vielleicht auch zu schwer."
Sautter vermisste auch mehr kulturelle und konfessionelle Heterogenität in den Gemeinden: "Es gibt Krabbel-, Konfirmanden-, Schul-, und Taizé-Gottesdienste. Aber wo sind die ‚normalen‘ Gottesdienste, die für alle offen sind? Reiche und Arme, Junge und Alte, Deutsche und Menschen aus anderen Ländern." Die rheinische Kirche sei zwar immer noch eine Volkskirche, müsse sich aber auch der Herausforderung stellen, Menschen ohne evangelischen Hintergrund oder mit einer schwierigen Lebensgeschichte zu empfangen. Bischof Gamxamub empfiehlt mehr Zuversicht bei der Planung des Gottesdienstes: "Ich denke, die Kirche kann die Länge der Gottesdienste Gott anvertrauen. Es ist gut, ihn auf eine Stunde zu planen – aber wenn es eine menschliche Regel wird, verschwindet die Spontanität."
Humanistisch oder evangelisch?
Nach den Besuchen vor Ort hatte die Gruppe vier Tage Zeit, sich die vielen persönlichen Eindrücke zu erzählen und gemeinsam zu analysieren. "Wir kamen aus unterschiedlichen Kontinenten und Kulturen", sagt Evelyne Will-Mueller, "trotz dieser Unterschiede kamen wir schnell zur vergleichbaren Ergebnissen." Zusammengefasst hat die Visitationsgruppe ihre Eindrücke in einem Bericht, den sie am Ende des Besuchs der EKiR überreichte. Darin beschreibt sie die EKiR als eine Landeskirche, die starke Spannungen aushalten muss – zwischen Liberalen und Pietisten, Stadt und Land, politisch Konservativen und Linken. Aber auch als eine Kirche, die über Ressourcen wie Räume, Offenheit und Mittel verfüge, so dass sich die Glieder der Kirche um Arme und Fremde kümmern könnten.
"Wir können im Bericht lesen, dass vieles sehr gut läuft. Aber die Gruppe der Ökumenischen Visite betont mehrfach, dass ihnen das direkte Zeugnis fehlt. Die Kirche mache viel Tolles, sage aber nicht, dass das aus dem Glauben heraus entstehe", so fasst Barbara Rudolph einen der Kernpunkte des Berichts zusammen. "Viele Einrichtungen und Aktionen vermitteln den Eindruck, eher humanistisch orientiert als evangelisch profiliert zu sein", heißt es dort zum Beispiel. "Wir haben das Thema schon häufiger als Defizit diskutiert. Es aber so einstimmig von Menschen aus Frankreich, Rumänien oder Indonesien zu hören, zeigt uns, dass wir überlegen müssen, was wir anders machen können", ergänzt Rudolph.
Gleichzeitig empfiehlt die Besuchergruppe auch eine größere Gelassenheit, was die Zukunft angeht: "Oft haben wir erlebt, dass der finanzielle Aspekt in den Vordergrund gerückt ist. Unsere Empfehlung ist, Gottesvertrauen konkret in finanziellen Fragen zu praktizieren." Barbara Rudolph und auch EKiR-Präses Manfred Rekowski hat ein weiterer Satz geprägt: "Wir müssen diasporafähig sein."
Ein Impuls über das Rheinland hinaus
"Die Kirchen unserer Besucher sind teilweise seit Jahrhunderten eine Minderheit. Trotzdem setzten sie gesellschaftspolitische Akzente, die spannend sind", sagt Barbara Rudolph. Im Bericht ermutigt die Visitationsgruppe die EKiR, den Rückgang von Mitgliedern und Mitteln auch als Möglichkeit wahrzunehmen. "Das ist eine spannende Erkenntnis: Es ist Aufgabe der Kirche, in ihrer jeweiligen Zeit und mit ihren Perspektiven die frohe Botschaft zu verkünden. Es ist viel wert, das auch noch einmal so deutlich in einer Umbruchssituation vor Augen geführt zu bekommen", sagt Rudolph.
"Ich habe mich unheimlich gefreut, dass der Präses und die Kirchenleitung unseren Bericht so gut aufgenommen haben", freute sich Bischof Gamxamub. Für die EKiR beginnt damit erst die Arbeit. "Unser Vorschlag ist, dass die Ausschüsse der Landeskirche im zweiten Halbjahr über die Erkenntnisse der Ökumenischen Visite beraten. Die Ergebnisse sind dann Teil der Landessynode 2016", erklärt Rudolph. Da das Abschlussdokument öffentlich einsehbar ist, rechnet sie damit, dass es auch andernorts diskutiert wird: "Der Bericht ist auch spannend für andere. Die deutschen Landeskirchen haben oft eine ähnliche Struktur." So kann der Impuls, den sich die EKiR von der Ökumenischen Visite erhofft hat, nicht nur in einer Landeskirche, sondern weit darüber hinaus wirken.