Kirchenasyl: "Ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes"

Lilly Grohmann, ihre Freundin Anna und Abdi spielen Fußball.
Foto: Parya Madjzoub
Anna, Abdi und Lilly spielen Fußball (von links).
Kirchenasyl: "Ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes"
Kirchenasyl in der evangelischen Gemeinde in Friedberg (Hessen)
Sommer im Jahr 2015: Die Kirchen geben ihre Austrittszahlen bekannt, die Kommunen geben ihre Nöte preis: wohin mit den ganzen Flüchtlingen? Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind überfüllt. Zeltlager werden errichtet. Die Bürokratie erstickt unter den Asylanträgen der Menschen, die es wagen ihre Hoffnung auf Papier zu schreiben. Unterdessen zeigt sich in der evangelischen Gemeinde in Friedberg: ein Kirchenasyl belebt den Glauben und die Gemeindearbeit.

Warum uns das 2015 wichtig war: Manche Termine beeindrucken mehr als andere, wegen der Menschen, die ich kennenlerne. Abdi und Susanne Domnicks Geschichte geht mir persönlich sehr nah und steht für mich stellvertretend für die deutsche Zwiespältigkeit im Jahr 2015: Menschen helfen Menschen und gleichzeitig fühlen sie sich staatlicherseits daran gehindert ihnen zu helfen. Menschlich ist vieles nicht nachvollziehbar, lernt man die Betroffenen kennen. Die rechtlichen Hürden empfinden wir dann als Missachtung der Menschenwürde. Was 2015 passierte, wird unser Land auf Jahrzehnte verändern. Wie Deutschland eines Tages mit den Folgen des Jahres 2015 zurechtgekommen ist, darauf können wir gespannt sein.

Dieser Inhalt erschien erstmals am 11.08.2015 auf evanglisch.de.

Lilith Becker, evangelisch.de-Redakteurin

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Die Geschichte, die Pfarrerin Susanne Domnick seit nun einem Jahr mit dem Äthiopier Abdi verbindet, hat Susanne Domnicks Sicht auf ihren Glauben und ihr Land verändert. "Abdi ist mir in die Hände gefallen und hat sich von mir auffangen lassen", sagt sie.

Im August 2014 hat die evangelische Gemeinde in Friedberg zwei junge Männer ins Kirchenasyl aufgenommen: den 17-jährigen Abdi aus Äthiopien und den 25-jährigen Rafael aus Eritrea. Der eine ist Muslim, der andere orthodoxer Christ. In der evangelischen Gemeinde in Friedberg hat ihre Anwesenheit den Glauben und die Gemeindearbeit belebt: konfessionslose und andersgläubige Friedberger beteiligten sich an der Hilfe für die zwei Schutzsuchenden. Ein "Runder Tisch für Flüchtlinge" hat sich etabliert.

8.200 Kilometer für ein besseres Leben in Deutschland

"Kirchenasyl ist die Bitte, ein Asylverfahren doch noch zu ermöglichen", sagt Pfarrerin Susanne Domnick. Es soll die Politik zum Hinschauen zwingen. Menschen, deren Asyl fälschlich abgelehnt wird, kann schließlich Verfolgung, Folter, Gefängnis oder der Tod drohen. Sie hat viele Bibelstellen gesammelt, die für sie ein Kirchenasyl und den Einsatz für Geflüchtete rechtfertigen. "Wir erwarten die neue Stadt; wir erwarten den Tisch, an den wir eingeladen sind von Norden und Süden, von Osten und Westen", und Gott, sagt Susanne Domnick, werde allen ein "fettes Mahl richten", ein "FETTES" wiederholt sie. "Kirchenasyl war für mich ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes."

Da Deutschland auf europäischem Boden nicht das erste Land war, dass Abdi und Rafael betraten, hätten sie laut Dublin-Verordnung "rückgeführt" werden müssen. Abdi in die Slowakei, Rafael nach Italien. Dank des Kirchenasyls konnten beide ihren Asylantrag in Deutschland stellen. Rafael wohnt mittlerweile mit seiner Freundin zusammen, mit der er gemeinsam aus Eritrea geflüchtet war. Abdi wohnt im evangelischen Kindergarten in Friedberg.

Abdi ist mit 15 Jahren aus seiner Heimat, der Ogaden-Region Äthiopiens, geflohen. Er hatte noch nie einen Pass, denn die Menschen der Ogaden-Region stehen unter Generalverdacht: somalische Rebellen, islamistische Al-Shabaab-Milizen und äthiopische Soldaten kämpfen um die Vorherrschaft. Seit Jahrhunderten herrscht ein Gezerre um die Region und die Menschen. 2008 erschossen Rebellen Abdis Vater.

Abdi und Pfarrerin Susanne Domnick sitzen oft zusammen in der Küche des Pfarrhauses. Hier reden und essen sie zusammen, hier schmieden sie Pläne für Abdis Zukunft.

Abdi hat sieben Geschwister. Seine Mutter hatte Kamele verkauft, um ihm und seinem älteren Bruder das Fluchtgeld zu beschaffen. Abdi wollte nach Deutschland, sein Bruder nach Amerika. Sie stiegen in Adis Abbeba in unterschiedliche Flugzeuge. Abdi flog in die Ukraine, verbrachte dort mehrere Monate eingesperrt in einer Turnhalle mit anderen Flüchtlingen. Dann reiste er für 4.000 Dollar mit ukrainischen Soldaten quer durch das Land an die Grenze zur Slowakei.

Als Abdi im Juli 2013 in der zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Gießen landete, war er fast 16 Jahre alt; und hatte innerhalb eines Jahres 8.200 Kilometer für ein besseres Leben zurückgelegt – von Äthiopien nach Deutschland. In der Slowakei gab er im Gefängnis an, volljährig zu sein - sonst hätte er nicht gehen dürfen.

Erwachsene Flüchtlinge haben - ohne Status - in Deutschland allerdings kein Recht auf Bildung. Die evangelische Gemeinde in Friedberg finanzierte ihm über Spenden einen Deutschkurs. Integration von offizieller Seite hatte er nicht zu erwarten. Erst im April 2015 urteilte eine Richterin: Abdi gilt als minderjährig. Das bedeutet für ihn, das deutsche Jugendamt muss sich um ihn kümmern, zumindest noch bis zu seinem Geburtstag im September. Abdi steht Deutschunterricht zu. Auf die Antwort auf seinen Asylantrag wartet Abdi allerdings noch. Auf den Deutschunterricht bisher auch.

"Keine Kirchengemeinde kann es sich leisten, ständig Flüchtlinge ins Kirchenasyl aufzunehmen"

Abdi ist ein schüchterner junger Mann, der leise spricht und viel seinen Kopf senkt. Wie als würde er sich unsichtbar machen wollen - lange war das die Strategie seines Überlebens. Sie spiegelt sich auch in einem somalischen Sprichwort, dass er wie einen Leitspruch mit sich trägt: "Etwas Gutes kommt später", sagt Abdi und lächelt zögerlich. Abdi ist noch in Deutschland. Zwölf Männer und Frauen zwischen 15 und 70 Jahren haben ihn und Rafael während ihres Kirchenasyls jeden Tag besucht. Sie nannten sich "die Deutschstunde" in Anlehnung an Siegfried Lenz' gleichnamigen Roman. Sie haben alle einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund, gerade mal die Hälfte ist evangelisch, doch es eint sie eine Ansicht: wir tun das Richtige, wir schützen die Richtigen, kein Mensch ist freiwillig auf der Flucht.

Die 17-jährige Lilly Grohmann und ihre Freundin Anna gehörten auch zum Team der "Deutschstunde". Auch heute noch, ein Jahr nach dem Kirchenasyl, sind sie mit Abdi befreundet. Sein Schmerz macht sie wütend, seine Freude ist auch ihre. Erst der Kontakt zu Lilly und Anna, der Kontakt zu Pfarrerin Susanne Domnick tauen Abdi auf. Er kann lächeln und sich preisgeben.

"Keine Kirchengemeinde kann es sich leisten, ständig Flüchtlinge ins Kirchenasyl aufzunehmen", sagt Lilly Grohmann. Abdi ist ihr Freund. Nochmal würde sie vermutlich nicht so viel Zeit für ein Kirchenasyl investieren, sagt sie. Denn das Kirchenasyl ist beendet, aber Abdis Geschichte geht noch weiter. Sich um Menschen zu kümmern kostet Zeit, Geduld, Verständnis und Ausdauer.

Auf 200.000 Flüchtlinge kamen im Jahr 2014 lediglich 200 Kirchenasyle - auch deshalb ist unverständlich, warum der Staat in Person des Bundesamtes für Migration (BAMF) androht, das Kirchenasyl einzuschränken. Seit die Flüchtlingszahlen in den vergangenen Jahren so hoch sind, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr, haben sich zwar die jährlich durchgeführten Kirchenasyle vervielfacht, doch immer noch sind es gemessen an der Gesamtzahl der Flüchtlinge wenige, die den Weg ins Kirchenasyl finden. Der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, hatte das Kirchenasyl einst "als gut begründeten zivilen Ungehorsam" willkommen geheißen. Er ist auch Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der EKD.

Doch 2014 verschärfte sich der politische Ton in Richtung Kirche: das BAMF drohte, die nötige Aufenthaltsdauer für Flüchtlinge, die unter die Dublin-Verordnung fallen, von sechs auf 18 Monate zu verlängern – erst dann könnten sie einen Asylantrag in Deutschland stellen. Bundesinnenminister Thomas de Maizières verglich das Kirchenasyl mit der Scharia – nahm dies inzwischen wieder zurück. Doch allen Beteiligten ist klar: Kirchenasyl ist nicht selbstverständlich.

Abdi vermisst seine Mutter und seine Geschwister. Doch er ist hier in Deutschland, um ein Leben ohne Repression und Terror führen zu können. "Die Menschen kommen, egal, was wir reichen Länder für Mauern und Zäune aufstellen", sagt Pfarrerin Susanne Domnick. "Flüchtlinge sind unsere Nächsten, wir leben in einer Welt zusammen."

Susanne Domnick betrachtet Abdi wie einen Sohn. "Ich übernehme Verantwortung für ihn", sagt sie. Das sei auch das, was sie Abdis Mutter gerne sagen würde, dass ihr Kind aufgehoben ist. Susanne Domnick hat Abdi schon zu vielen Terminen begleitet, hat viele Stunden mit ihm in ihrer Küche verbracht, gegessen und geredet.

"Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf"

Die Begrenzungen und Grenzen, die die reichen Länder um die Armen dieser Welt legen, sind für die Flüchtenden keine Abschreckung, sondern der Schrecken liegt an den Orten, die sie einst ihre Heimat nannten.

Abdi hat sich auf seiner Flucht an seinem Glauben festgehalten. Fünf tägliche Gebete und einmal im Monat den Koran durchlesen, das sind seine selbst auferlegten Pflichten. Was er zunächst nicht wusste: Rafael war auf seiner Flucht aus Eritrea von Muslimen gefoltert worden. Er wollte Abdi verbieten zu beten - oder gar die Kirche zu betreten. Die beiden wohnten zusammen in der Sakristei. Viel Auslauf außer dem Kirchenraum gab es nicht. "Das hat natürlich Konflikte gegeben", sagt Susanne Domnick. Zwei Geflüchtete mit traumatischen Fluchterfahrungen gemeinsam in einem Raum, aus dem sie nicht hinaus können. Kirchenasyl bedeutet auch Isolation – gibt jedoch Hoffnung, nicht in das Leben zurück zu müssen, das ihnen die Zukunft genommen hat.

"Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen!" (Jesaja 58, 7)