Ein Kirchturm, gerade und klar, im Stil des neues Bauens. Mutig ragt er über das Wohngebiet, wo Nachbarn ihre Gärten pflegen und Kinder rollerskaten. Herr Alizadeh geht auf das Gemeindehaus zu, begleitet von seiner Frau und dem jüngsten Sohn. Als sie eintreten, sind die ersten Schritte fast schüchtern. Das Kind drückt sich eng an die Mutter. Der Raum ist vertraut, es ist noch nicht lange her, dass sie hier gelebt haben. Sie schauen sich um. Was hat sich verändert? Hier in der Gemeinde? Und in ihrem Leben? Einen Moment später kehrt die alte Vertrautheit zurück. Acht Monate lang hatte die Kirchengemeinde der Familie Zuflucht gewährt, um sie vor einer drohenden Abschiebung zu schützen. Während die Eltern erzählen, wie es dazu kam, schnappt sich ihr Jüngster ein paar Buntstifte und fängt an zu malen.
Es war Rettung in letzter Minute, dass die Familie in der Kirche Zuflucht fand. Jemand hatte sie gewarnt, dass sie wahrscheinlich in den nächsten Tagen abgeschoben würden. In Kroatien hatten sie zum ersten Mal ihre Fingerabdrücke abgeben müssen, dorthin sollten sie zurück. Was tun? Herr Alizadeh rief seinen Anwalt an. Der schlug vor, in der Kirche Zuflucht zu suchen, um Zeit zu gewinnen, um rechtliche Schritte gegen die Abschiebung einzulegen. Der Gemeinderat tagte. Sollte man diesen Schritt wagen?
"Die Evangelische Landeskirche in Württemberg sieht Kirchenasyl als einen letzten legitimen Versuch (Ultima Ratio) einer Kirchengemeinde, einem Flüchtling durch zeitlich befristeten Schutz beizustehen, um auf eine erneute, sorgfältige Überprüfung seines Schutzbegehrens hinzuwirken", heißt es auf der Webseite der Landeskirche. Sie berufen sich dabei auf eine Jahrhunderte alte Tradition, "um Menschen zu schützen, denen eine lebensbedrohliche Abschiebung oder eine Überstellung in eine lebensbedrohliche oder menschenunwürdige Situation droht." Der Gemeinderat befand, dass bei Familie Alizadeh dies der Fall war. Herr Alizadeh flüchtete also zusammen mit seiner Familie in die Kirche und fand dort einen sicheren Ort.
Kirchenasyl ist nicht Gesetz
Kirchenasyl ist in Deutschland schon lange kein gesetzlich verbrieftes Recht mehr. "Heute ist Kirchenasyl ein Akt des zivilen Ungehorsams gegen bestehendes Recht", heißt es auf der Webseite der Landeskirche. "Es wird von den Behörden und der Polizei trotzdem allermeist respektiert, weil es besondere einzelne Härtefälle sind. Darum ist Kirchenasyl auch immer nur eine Zeit lang und in Absprache mit den Behörden möglich. Am Ende entscheidet der Staat und die Gerichte, nicht die Kirche über den Fortgang." Für Familie Alizadeh hieß das: Nur in den Räumen der Kirche sind sie sicher. Während dieser Zeit durften die Erwachsenen das Grundstück der Kirche nicht verlassen. Wenn die Polizei sie draußen aufgegriffen hätte, dann hätte die Kirche nichts für sie tun können. Aber ihre Kinder konnten in die Schule gehen.
Die Gemeinde richtete eine kleine Wohnung her, die zu ihrem Kindergarten gehört. Acht Monate blieb die Familie dort. In dieser Zeit lief ihr Verfahren. Dann endlich bekamen sie Dokumente, mit denen sie legal in Deutschland leben können. Herr Alizadeh sagt: "Die Menschen hier in der Kirche haben sich sehr um uns gekümmert. Ich bin ihnen wirklich dankbar. Sie haben sehr menschlich und freundlich gehandelt." Seine Frau war besonders beeindruckt, dass unter den Gemeindemitgliedern eine Ärztin war, die sich um sie gekümmert hat. "Sie hat uns besucht und Medikamente verabreicht, wenn wir oder die Kinder krank waren."
Eine lange Flucht
Die Familie hatte auf der Flucht Schreckliches durchgemacht. Wie viele Afghanen, hatte Herr Alizadeh mit seiner Familie im Iran gelebt – das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass sich derzeit etwa 3,7 Millionen vertriebene Afghan*innen mit unterschiedlichen Dokumentenstatus im Iran aufhalten. Aber Fremdenfeindlichkeit und ungesicherte Aufenthaltstitel machen ihnen das Leben dort schwer. Herr Alizadeh begann seine Reise vom Iran aus und ging zunächst in die Türkei. Von dort kam er nach Griechenland, ins Lager Moria, wo es nicht mal das Lebensnotwenige gab.
Drei Monate später kamen sie in ein anderes Lager, das 75 km von Athen entfernt ist. Dort lebten sie etwa zwei Jahre. Herr Alizadeh sagt: "Wir wurden in diesem Lager für den Asylantrag interviewt, aber unser Antrag wurde abgelehnt." Zur Angst vor Abschiebung in die Türkei oder ihr Herkunftsland kam die Angst vor einem griechischen Gefängnis.
Alle in Griechenland abgelehnten Geflüchteten sind im Land Illegale, die auf der Straße leben und jederzeit festgenommen und inhaftiert werden können. Dabei werden die Kinder von den Erwachsenen getrennt und der griechische Staat übernimmt das Sorgerecht. "Wir mussten also weiterreisen", so Vater Alizadeh. Zu Fuß gelangten sie nach Albanien, der Weg dorthin war schwer. Nach einiger Zeit fuhren sie nach Montenegro. Danach kamen sie nach Bosnien, wo sie zwei Monate verbrachten. "Wir gingen durch die Wälder. Als wir in Bosnien ankamen, begann es zu schneien, erzählt Herr Alizadeh. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie Herr Alizadeh, seine Frau und seine vier Kinder diese lange Odyssee durchhalten konnten. Doch sie hatten keine Wahl, nirgends auf diesem Weg war ein Ort, wo sie hätten bleiben können. Und die Odyssee war noch nicht vorbei.
Pushbacks an der Grenze
"An der Grenze zu Bosnien und Herzegowina wurden wir angehalten. An dieser Grenze halfen uns Menschen mit Zelten und etwas warmer Kleidung. Sie gaben uns auch Essen. Wir waren da etwa vierzig Familien und nach einiger Zeit gelangten wir nach Kroatien. In Kroatien hat die Polizei uns verhaftet und unsere Fingerabdrücke genommen. Wir blieben dort ungefähr zwei Monate und haben mehrere Pushbacks nach Bosnien und Serbien erlebt. Es sind diese Pushbacks, die entscheidend dafür waren, dass die Gemeinde das Kirchenasyl akzeptiert hat.
Menschenrechts-Organisationen beobachten seit Jahren, dass die kroatische Polizei Flüchtende nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina zurückschiebt, obwohl das nach europäischem Recht nicht erlaubt ist. Den Menschen, die in die Europäische Union wollen, wird jegliche rechtliche Möglichkeit verwehrt, Asyl zu beantragen. Mit dem Kirchenasyl wollte die Gemeinde die Familie davor schützen, dass sie nach Kroatien ausgewiesen würde und von dort wieder und wieder von der Polizei über die EU-Außengrenze verfrachtet würden. Experten sehen diese Pushbacks im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention und dem völkerrechtlichen Grundsatz
der Nichtzurückweisung. Der Europarat und andere Organisationen kritisieren die Pushbacks scharf.
Herr Alizadeh erzählt eher lakonisch davon. "Generell hat uns die kroatische Polizei nicht schlecht behandelt", sagt er. Immer wieder gibt es Berichte von Geflüchteten, die Schläge und schwere Misshandlungen erleben. "Aber", fügt er hinzu, "sie haben uns immer wieder in Nicht-EU-Länder zurückgeführt." Trotzdem schafften Herr Alizadeh und seine Familie es irgendwann zu Fuß von Kroatien nach Slowenien. Auch dort mussten sie ihre Fingerabdrücke abgeben. Dann kam Corona. Sie blieben in Quarantäne. "Nachdem wir aus der Quarantäne herauskamen, fuhren wir nach Italien und erreichten von Italien aus die Schweiz." An der Grenze zwischen Schweiz und Deutschland wollten die Beamten die Familie nicht passieren lassen. Es gab ein Durcheinander. "Das machte vor allem unseren Kindern große Angst", erzählt Herr Alizadeh. "Sie begannen laut zu weinen. Da ließen uns die Beamten am Schlagbaum vorbei über die Grenze laufen. Dann kamen wir endlich in Deutschland an."
Der Beginn in Deutschland
Nach seiner Ankunft in Deutschland stellte sich Herr Alizadeh einem Flüchtlingslager in der Nähe von Stuttgart vor. Nach etwa zwei Monaten hatte er das erste Interview. Er wurde gefragt, wie er nach Deutschland gekommen sei, und er erzählte ihnen, dass er auf diesem Weg durch viele Länder gereist sei. Das nächste Interview fand im Mai 2022 statt. Danach sagte man ihm, dass er nach Kroatien zurück müssen, weil man dort seine Fingerabdrücke genommen hatte. Nach diesem Interview ist er noch einige Monate in der Unterkunft geblieben. In dieser Zeit hat er Deutsch gelernt. Dann kam der Tag, an dem man sie warnte, dass sie abgeschoben werden sollten.
Acht Monate blieb die Familie im Kirchenasyl. Diese Zeit reichte, um ihren Aufenthalt erstmal zu stabilisieren. Herr Alizadeh hat jetzt eine Einjahreskarte, seine Kinder eine Dreijahreskarte. Als sie in der Kirche Schutz suchten, hatten manche vermutet, dass man die Religion ändern und Christ werden müsse, erzählt die Frau von Herrn Alizadeh. "Aber das ist nicht wahr", sagt sie. "Sie haben nicht nach unserer Religion gefragt. Sie respektieren die Menschenwürde."
evangelisch.de dankt der Diakonie Württemberg und Amal, Berlin! für die inhaltliche Kooperation.