Die Berliner Messe-Halle ist anders als noch vor Jahren bei ähnlichen Veranstaltungen restlos besetzt. Vor allem junge Menschen scheinen sich beim Studiosus-Gespräch auf der Internationalen Tourismus Messe informieren zu wollen, ob und wie man Besuche in Armenvierteln buchen kann.
"Slums werden in der Stadtpolitik nicht mehr versteckt. Gerade im Vorfeld der letzten Fußball-WM wurde das Favela-Image als Zeichen der Lebensfreude in den Vordergrund gerückt", sagt Malte Steinbrink vom Institut für Geographie und Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück.
Moralische Zweifel üben Druck auf Tourenanbieter aus
Allerdings sei der heutige Slumtourismus ein nicht wirklich neues Phänomen. Schon vor gut 180 Jahren habe es im viktorianischen London die Bestrebung gegeben, sich im verruchten Eastend niederzulassen, um auch mit kirchlicher Unterstürzung die terra incognita der Arbeiterviertel, des Sündigen und Unmoralischen aufzusuchen und dort für Verbesserungen zu sorgen. Ähnlich fing man später in den USA an, ethnische Ghettos wie China town oder Little Italy für besuchenswert zu erachten.
Doch heute boomt der Slumtourismus, mit ihm seine kritische Begleitung durch die Urlauber. Zum Beispiel in Internetforen: "Rio ist wirklich nicht ungefährlich und mit den ganzen Banden in den Favelas wäre ich vorsichtig! Finger weg von Übernachtungen in der Favela", schreibt ein besorgter Tourist. "Als Europäer mal schauen, wie es armen Brasilianern geht? Einen kleinen Bandenkrieg wenigstens mal von weitem hören? Ich halte von dieser Art Armutstourismus mit Adrenalin gar nichts!"
Malte Steinbrink sagt, solche moralischen Zweifel wirken stark auf die Tourenanbieter: "Da gibt es drei Strategien, erstens die der Kulturalisierung, man wird vom Sozialvoyeur zum Kulturreisenden. Zweitens will man als Veranstalter den Slumbewohnern helfen und drittens will man dem medialen Slumhorror-Bild ein reales Bild entgegensetzen."
Schmuddelecke statt Postkartenmotiv
Allerdings geht es bei den Reisen weniger um Wohnen im Slum, als vielmehr um stundenweise Besuche und Führungen. Und es gibt im Internet auch begeisterte Berichte zu finden: "Unsere Gruppe verbringt einen ganzen Nachmittag zusammen mit unserem Tourguide im Favela Rocinha. Ganz unverschnörkelt und ohne irgendwelche inszenierten Attraktionen erhalten wir im vierstündigen Spaziergang durch die schmalen und steilen Gassen einen guten Einblick in das Zusammenleben der Gemeinde. Wir folgen ihm durch das riesige Labyrinth und werden überall freundlich begrüsst."
Auch wenn solche Reiseeindrücke und Diskussionen immer subjektiv sind, so spiegeln sie doch die Tendenz wider, dass nicht mehr nur die Postkartenmotive, sondern auch die Schmuddelecken einer Urlaubsregion verstärkt in den Blick geraten.
Thulani Madondo aus dem Kliptown Youth Program in Südafrika führt Touristen in die Armutsviertel seines Landes. Er sagt, es sei eine Art win-win-Situation. Die Besucher erhalten ein reelles Bild der sozialen Situation in der heutigen Regenbogennation, die die Apartheid weit hinter sich gelassen hat. Die Einnahmen aus den Führungen kommen den Menschen in den Townships zu gute.
Behutsamer Kontakt verschiedener Lebenswelten
"Ich bin hier in einem kleinen Schuppen groß geworden. Ich bin selbst das beste Beispiel dafür, dass diese Art des Tourismus Vorteile bringt. Wir leben jetzt in richtigen Häusern, haben zwei Mal am Tag eine Mahlzeit. Es kann aber nicht sein, dass wir jetzt einfach nur auf die Menschen in den Touristenbussen warten, die dann Süßigkeiten verteilen. Das kann nur eine Brücke sein, um uns aufzuraffen", sagt Madondo.
Ähnlich sieht das auch Asim Shaikh, Tour Guide Manager bei Reality Tours im indischen Mumbai. Für sein Engagement wurde er jetzt mit dem ToDo-Preis für sozialverträglichen Tourismus des Studienkreises für Tourismus und Entwicklung e. V. ausgezeichnet. Auch Shaikh ist im Slum groß geworden. Reality Tours ermöglicht Touristen Einblicke in die Lebenswirklichkeit Dharavis, mit mehr als einer Millionen Einwohnern einer der größten Slums Indiens.
"Die meisten Menschen wissen gar nicht, was ein Slum ist. Klar gibt es dort große Armut, aber es geht eben auch um den Respekt vor diesen Menschen, die täglich ihr Leben meistern. Wir bringen Besucher dorthin, um den Bewohnern zu zeigen: andere sind an Euch interessiert", sagt der indische Reiseveranstalter. Dabei möchte er keinen Massentourismus. Es geht ihm um einen behutsamen Kontakt verschiedener Lebenswelten.
Würde und Stolz der Slumbewohner
"Fotos machen ist nicht erlaubt. Wir geben später einen Link mit Fotos als Erinnerung. Wir bitten um längere Hosen und Ärmel und festes Schuhwerk, weil wir auch mal durch Abwasserkanäle müssen. Die Gruppengröße liegt bei maximal sechs Menschen, die von 15 Reiseleitern in mindestens zehn Minuten Abstand in den Slum hineingeführt werden, damit sich die Gruppen nicht ins Gehege kommen. Es soll keine Art menschlicher Zoobesuch sein, kein Begaffen der Schlafzimmer. Slums sind nicht hässlich und dreckig, sondern wir sind stolz. Es geht um die bunte Lebenswirklichkeit und auch um die Vielfalt der Religionen“, berichtet Shaikh.
Doch Antje Monshausen, Leiterin der Arbeitsstelle Tourism Watch bei Brot für die Welt, bleibt skeptisch. Wenn immer mehr Menschen kommen, dann werde das Signal gesendet, es lohne sich arm zu bleiben und sich dafür begucken zu lassen, statt sich aus der Armut zu befreien. "Dem Massentourismus auch ohne Guide wird Tür und Tor geöffnet. Wo ist da der Schutz der lokalen Bevölkerung? Würde und Stolz der Slumbewohner dürfen nicht verletzt werden", warnt die evangelische Reise-Expertin.