Der Tod im Schacht offenbart Russlands Realität

Der Tod im Schacht offenbart Russlands Realität
Die Katastrophe in einem russischen Bergwerk wirft ein Schlaglicht auf die Situation im berühmten Kusnezker Kohlebecken "Kusbass". In der sibirischen Region, rund 3.500 Kilometer östlich von Moskau, ist die Lebenserwartung zehn Jahre niedriger als sonst im Riesenreich. Das Wasser ist von Gruben vergiftet, die Luft von Kokereien verschmutzt und unter Tage drohen wegen Methangas Katastrophen - wie am vergangenen Samstag, als zwei verheerende Explosionen einen Stollen weitgehend zum Einsturz brachten und Dutzende Menschen töteten.
11.05.2010
Von Wolfgang Jung

Helfer trugen bis Dienstag mehr als 50 Tote aus den Trümmern im Schacht "Raspadskaja". Für 40 weitere Arbeiter, die noch in 500 Meter Tiefe vermisst wurden, gab es kaum noch Hoffnung.

Nicht oft sehen die Russen ihren Regierungschef Wladimir Putin mit so ernster Miene wie am Dienstag: Mit zerfurchter Stirn und fast ganz in Schwarz gekleidet, saß der frühere Kremlchef am Unglücksort in der Region Kemerowo mit Angehörigen der Bergleute zusammen. "Worte können Ihnen den Schmerz nicht nehmen", sagte er zu den verzweifelten Frauen. "Ich will Ihnen aber versichern, dass der Staat an Ihrer Seite ist und Sie unbürokratisch unterstützen wird." Später zeigte das Staatsfernsehen, wie Putin im weißen Ärztekittel sechs Bergleute im Krankenhaus der Stadt Nowokusnezk besuchte. Sie hatten bei den Explosionen Verbrennungen und Rauchvergiftungen erlitten.

Neue Herrlichkeit auf der einen, alte Technik auf der anderen Seite

Erst am Sonntag hatte sich Russland bei der Militärparade zum 65. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau ausländischen Gästen wie Bundeskanzlerin Angela Merkel als wiedererstarkte Großmacht präsentiert. Doch das Drama unter Tage offenbarte einmal mehr die Verwundbarkeit im Inneren. Im scharfen Kontrast zu den Jubelbildern vom Roten Platz musste das Staatsfernsehen über die Missstände im heimischen Bergbau berichten. Dass es wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion immer wieder zu schweren Grubenunglücken mit hohen Opferzahlen kommt, gehört zu den traurigen Realitäten, die oft verschwiegen werden.

Russland sieht sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Weg zu alter Herrlichkeit. Kremlchef Dmitri Medwedew und sein politischer Ziehvater Putin lassen neue Atom-U-Boote sowie Kampfflugzeuge mit Tarnkappen-Technik bauen. Zudem laufen Planungen für ein Hightech- Zentrum nach US-Vorbild auf Hochtouren.

Zwei Tote für jede Million Tonnen Kohle

Modernste Technik befand sich auch in den Stollen der Anlage "Raspadskaja", die über das Unternehmen Ewras zum Imperium des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch gehört. Doch auch die angeblich besten Gasdetektoren, die landesweit als Vorbild galten, konnten die Bergleute nicht vor dem Unglück bewahren. "Tod im Muster-Schacht", titelte die Moskauer Zeitung «Iswestija» am Dienstag.

Im "Kusbass" wurde die erste Grube 1851 in die sibirische Erde getrieben. "Seitdem kommen auf jede Million Tonne geförderte Kohle zwei Tote", sagte einer der mehr als 500 Helfer am Dienstag. Eigentlich lebe ganz Russland auf Kosten von Sibirien: "Von Lebensverhältnissen wie in Moskau und St. Petersburg können wir hier aber nur träumen."

dpa