Roland Emmerich und der wahre Shakespeare

Roland Emmerich und der wahre Shakespeare
In Babelsberg dreht Roland Emmerich seinen neuesten Film. War William Shakespeare wirklich Autor berühmter Dramen wie "Romeo und Julia"? Oder doch ein anderer? Ein Besuch am Set.
04.05.2010
Von Martin Schwickert

Es stinkt nach Fisch. Die Kiste Makrelen, die der Produktions-Designer ans Set schleppen ließ, steht hier schon ein paar Tage in der Sonne. Das soll so sein. Schließlich war das Leben im London des 16.Jahrhunderts auch kein Zuckerschlecken. Die Männer und Frauen tragen grobe Leinenkleider und unförmige Wollfilzhosen. Die Maskenbildner frischen mit dem Schminkpinsel bei einigen Komparsen den Dreck in den Gesichtern auf. Man sieht, dass hier nicht für einen Schönheitswettbewerb gecastet wurde.

Markante Nasen, buschige Augenbrauen, verzottelte Bärte, Zähne, die auch ohne Spange ihren Platz im Gebiss gefunden haben, dominieren das Bild. Die Pause für die rund 550 Statisten am Set von Roland Emmerichs "Anonymous", der zur Zeit im Filmstudio Babelsberg nahe Berlins gedreht wird, ist nur kurz. Da ruft erneut die Stimme des Meisters durch die Lautsprecher. Die Plastikbecher werden eingesammelt, das Handy verschwindet unter der Kutte und es geht wieder hinein in den hölzernen Theatersaal, den über hundert Tischler und Zimmermänner 35 Tage lang bei harten Minusgraden errichtet haben.

Wer schrieb Shakespeares Werke?

Einen Durchmesser von 24 Metern hat das zum Himmel hin offene Rundtheater. Das sind fast die Originalmaße des "Rose Theatres", in dem die frühen Stücke William Shakespeares aufgeführt worden sein sollen. "Heinrich V." erlebt hier gerade sein Finale. Das Publikum tobt und fordert den Autor des famosen Stückes auf die Bühne. Ein Schauspieler namens Shakespeare (Rafe Spall) gibt sich als Dichter zu erkennen, während sich in der Loge Rhys Ifans als fein gekleideter Earl of Oxford über die Anmaßung des Mimen mokiert. Eine Schlüsselszene, denn in Emmerichs "Anonymous" geht es um die Frage, wer Shakespeares Werke wirklich geschrieben hat.

Schon seit Jahrhunderten tobt der Streit in der Literaturwissenschaft, ob der Schauspieler, Theaterbesitzer und Geschäftsmann William Shakespeare, der 1564 in Stratford-upon-Avon als Sohn eines einfachen Handschuhmachers geboren wurde und von dem bis auf sechs krakelige Unterschriften keinerlei Schriftdokumente erhalten sind, tatsächlich der Autor von "Romeo und Julia", "Hamlet" und "Macbeth" gewesen ist. Über fünfzig Bewerber auf den Thron des wichtigsten britischen Dramatikers wurden in den letzte zweihundert Jahren ermittelt. Als Favorit schälte sich der 17. Earl of Oxford Edward de Vere heraus - ein hoch gebildeter Mann und Theaterliebhaber, dessen adliger Stand es nicht zugelassen hätte, sich als niederer Stückeschreiber zu outen.

Geballte Macht des Mainstreams

Jetzt reiht sich Roland Emmerich mit der geballten Macht eines Mainstream-Filmemachers bei den "Oxfordianern" ein. Der schwäbische Hollywood-Regisseur, der zuletzt mit "The Day After Tomorrow" und "2012" seine Weltuntergangsfantasien digital durchbuchstabierte, will mit diesem Film Abschied nehmen von seinem Image als "Master of Desaster". Emmerich sieht sich als Geschichtenerzähler, auch wenn die meisten seiner Filme sicherlich nicht wegen der ausgefeilten Plotstrukturen und einfühlsamen Figurencharakterisierungen, sondern aufgrund bombastischer Effekte zu internationalen Publikumserfolgen wurden.

Neben ihm sitzt Vanessa Redgrave, eine der wirklich großen, alten Damen des britischen Kinos. Sie spielt Queen Elisabeth und muss ein zwanzig Kilo schweres Prachtgewand würdevoll über das Set tragen. Auch wenn sich alle Beteiligten über die Details des Skripts sehr wortreich ausschweigen, ist klar, dass neben der Urheberschaftsfrage die Beziehung zwischen der legendären Monarchin und dem Dichter im Zentrum der Story steht. Edward de Vere soll nämlich sowohl illegitimer Sohn als auch späterer Liebhaber Elisabeths gewesen sein.

Intrigen und Inzest

Intrigen, Inzest und verborgene Identitäten – das klingt nicht nach einem literaturwissenschaftlichen Kammerspiel, sondern nach deftiger Kinokost und auch schon ein wenig mehr nach Emmerich. Einige Jahre ist er in Hollywood hausieren gegangen, um die Finanzierung des Projektes auf die Beine zu stellen. So etwas hat der Blockbuster-Macher normalerweise nicht nötig. Mit dreißig Millionen Dollar entspricht das Budget für "Anonymous" nun etwa einem Siebtel der Produktionskosten von seinem letzten Film "2012". In Hollywood könnte man mit dem Betrag nie und nimmer einen Kostümfilm auf die Beine stellen. Und so feiert Emmerich ausgerechnet mit einem britischen Historiendrama in "Studio Babelsberg" seine Rückkehr nach Deutschland.

Sebastian Krawinkel, Leiter des "Art Departments" ist voll des Lobes für die filmkünstlerische Infrastruktur, die sich hier bietet. Drei Kupferstiche, die das London des 16.Jahrhunderts zeigen, hängen an der Wand, aus denen Krawinkel die Stadtansichten für den Film Einstellung für Einstellung rekonstruiert hat. Dabei greifen gebaute Sets und digitale Bildkreationen direkt ineinander. Volker Engel und Marc Weigert haben schon für die visuellen Effekte in "Independence Day", "Godzilla" und "2012" verantwortlich gezeichnet. Im Lego-Verfahren haben sie das alte London aus einzeln fotografierten Fassadenelementen neu zusammengesetzt.

Beerdigung der Queen

Gerade arbeiten die beiden an der Beerdigung von Queen Elisabeth, die aus den engen Gassen Londons auf die zugefrorene Themse verlegt wurde. Im langsam geschwungenen Vogelflug schwebt die Kamera über den endlosen Trauerzug aus abertausenden Pixelmenschen hinweg. Die gigantomanische Szene wirkt wie eine Visitenkarte von Roland Emmerich, der auch auf historisch-literarischem Terrain der alte Effektemeister bleibt, aber diesmal vielleicht sein Publikum ins Staunen versetzen wird, ohne dafür gleich die ganze Welt untergehen lassen zu müssen.


Martin Schwickert ist freier Journalist und lebt in Berlin.