Mit anderen Augen: Fragen und Fakten

Mit anderen Augen: Fragen und Fakten
Die Ethnologin Verena Spilker hat zwei Jahre mit Roma in Transkarpatien gearbeitet und engagiert sich jetzt für die Roma-Gadje-Initiative, die sich für einen Dialog durch Freiwilligendienst einsetzt. Hier ihre Antworten auf einige der häufigsten Fragen von Nicht-Sinti zum Thema.
01.05.2010
Von Verena Spilker

Eine Annäherung an das Thema der Sinti und Roma ist für Außenstehende nicht einfach. Viel zu oft wurde den Sinti und Roma die Möglichkeit genommen, sich selbst zu äußern und Hoffnungen und Wünsche eigenständig zu formulieren.

Der beste Weg einer Annäherung ist sicherlich der direkteste: die Menschen selbst zu befragen und von ihnen zu erfahren, wie sie ihre Situation einschätzen und was getan werden kann, um ihre Stellung in der Gesellschaft zu verbessern.

Wie viele Sinti und Roma leben heute in Deutschland und Europa?

Genaue Angaben zur Zahl der Roma und Sinti können nicht gemacht werden, man geht aber von ca. 70.000 in Deutschland und bis zu 12 Millionen europaweit aus. Dabei ist es durchaus wichtig, zwischen den verschiedenen Gruppen zu unterscheiden.

Sinti leben seit vielen Jahrhunderten in Deutschland und haben einen deutschen Pass. Vor Kurzem sprach ich mit Herrn Weiß vom Sinti-Landesverband in Hamburg. Er berichtete mir, dass die 45 Sinti-Familien, die im Stadtteil Georgswerder leben, bereits seit über 600 Jahren dort ansässig sind.

Sinti gibt es vor allem in Deutschland und Mitteleuropa, während die Roma hauptsächlich im südosteuropäischen Raum anzutreffen sind. Auch wenn einige Roma schon seit mehreren Jahrhunderten auch fest in Deutschland leben - die Mehrzahl der Roma kam als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge während des Kosovo-Kriegs nach Deutschland.

Was bezeichnen die drei Begriffe Sinti, Roma und Zigeuner?

Zigeuner ist ein Begriff, der sich wahrscheinlich aus dem Persischen ableitet (ciganch steht im persischen für Musiker, Tänzer, asinkan für Schmied). Aufgrund der starken Verfolgung, die viele Menschen unter diesem Namen erfahren haben und den sie als eine Fremdbezeichnung sehen, war es ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstbehauptung, mit Roma und Sinti Bezeichnungen zu nutzen, die auch sie selbst für sich gebrauchen.

In Osteuropa gibt es allerdings auch viele Gruppen, die sich selber als Zigeuner definieren. Man sollte versuchen, hier nicht zu sehr zu verallgemeinern und wenn Unsicherheiten bestehen, nachzufragen, wie sich die Menschen selbst definieren oder wie sie von außen bezeichnet werden möchten.

Woher stammt die Roma-Volksgruppe?

Die Geschichte der Roma und Sinti wurde von ihnen selbst nicht überliefert - auch wenn es viele unterschiedliche Sagen über ihre Herkunft gibt. Auf Grund ihrer Sprache, dem Romanes, und einigen historischen Dokumenten wird davon ausgegangen, dass sie im 11. Jahrhundert Nordindien verließen und über den Nahen Osten nach Europa wanderten.

Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts fanden sie in Dokumenten fast aller europäischer Länder Erwähnung. Wie viele andere Gruppen boten sie ihre Kunstfertigkeiten feil, arbeiteten als Metallarbeiter, Korbflechter, Musiker, andere schlossen sich aber auch lokalen Armeen an.

Warum sind sie nichtsesshaft?

Um nach Wurzeln für Nichtsesshaftigkeit zu suchen, müsste man sich wohl bei der Mehrheitsbevölkerung umsehen, immerhin haben sie die Roma und Sinti in den meisten Fällen vertrieben oder ihnen Arbeitsmöglichkeiten verweigert, so dass sie versuchen mussten, an einem anderen Ort ihr Überleben zu sichern.

Bei uns, in unseren Nachbarstaaten und anderen Teilen der Welt leben Roma und Sinti schon seit vielen Jahrhunderten fest angesiedelt. Die wenigen Roma, die tatsächlich noch in Wagen leben und herumziehen, leben in Frankreich und Großbritannien. Ihre Wagen sind in vielen Fällen moderne Wohnwagen.

Was sind die Ursachen des Antiziganismus und der Verfolgung unter anderem durch die Nazis?

Antiziganismus und Verfolgung von Roma und Sinti haben eine lange Tradition, die von den Nazis auf verschärfte Weise fortgeführt wurde. Die Ursachen liegen möglicherweise in einer allgemeinen Angst vor dem Fremden, die aus Vorurteilen, Verallgemeinerungen und kulturellen Missverständnissen erwächst.

Mit Verfolgung mussten sich die Roma und Sinti seit jeher auseinandersetzen, und gerade deswegen ist es heute wichtig, alles dafür zu tun, um die Gegenwart und die Zukunft zu sichern. Die aktuelle Aufgabe liegt darin, sich für Vergangenes zu entschuldigen und Wege zu finden, ein respektvolles Zusammenleben zu ermöglichen.

Während es in Osteuropa in vielen Fällen um die Sicherung der elementarsten Menschenrechte geht, sollte in Deutschland vor allem der Blick auf die vielen von der Abschiebung bedrohten Roma aus dem Kosovo gelegt werden. Wer sich mit der Situation im Kosovo beschäftigt, erkennt schnell, dass sie dort kein sicheres Umfeld erwartet. Besonders im Hinblick auf die deutsche NS-Vergangenheit sollten wir uns für ein Bleiberecht aussprechen um so die lange Geschichte der Verfolgung zu beenden.

Woher kommt das Image des kriminellen Zigeuners?

Zum größten Teil aus den von unterschiedlichen Medien vermittelten Bildern. Deutsche nehmen sich selbst als Individuen wahr und möchten nicht für die Handlungen anderer Deutscher herangezogen werden. In den meisten Berichten über kriminelle Vorkommnisse bei Roma allerdings wird wie auch bei allen anderen hier lebenden Volksgruppen die ethnische Zugehörigkeit genannt, während sie bei Deutschen im Allgemeinen weggelassen wird. Das gibt der Mehrheitsbevölkerung die Möglichkeit zu pauschalisieren und Vorfälle auf eine gesamte Gruppe zu übertragen.

Welchen Stellenwert hat die Religion bei Sinti und Roma?

Die meisten Sinti und Roma haben im Lauf der Jahrhunderte die Religion der Mehrheitsbevölkerung übernommen. So ist die oben schon erwähnte Familie Weiß evangelisch, und die Roma und Sinti in Georgswerder haben ihre eigene evangelische Kirche.

Besonders in Osteuropa sind viele Roma katholisch, aber es gibt auch muslimische Roma. Einige der in Osteuropa, aber vermehrt auch die in Spanien, Frankreich und den USA lebenden Roma und Sinti gehören charismatischen Kirchen an.


Verena Spilker, M.A., studierte in Göttingen und Leipzig Ethnologie, Politikwissenschaft, Hispanistik und Russistik.