TV-Tipp: "37 Grad: Wo die starken Kerle wohnen" (ZDF)

TV-Tipp: "37 Grad: Wo die starken Kerle wohnen" (ZDF)
Reportage über 11 Jungs, die unter dem Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) leiden, und zwei Monate auf einer Alm verbringen - fernab von der Hektik des modernen Lebens und ganz ohne Tabletten.
08.03.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"37 Grad: Wo die starken Kerle wohnen", 9. März, 22.15 Uhr im Zweiten

Eigentlich sind die Jungs, um die es in dieser Reportage geht, gar keine starken Kerle. Es handelt sich vielmehr um Kinder, die sich zwar wild gebärden, aber in erster Linie Opfer sind; man weiß nur nicht, warum. Sie alle leiden unter ADS, unter einem krankhaften Aufmerksamkeitsdefizit, und weil sie im Alltag kaum auszuhalten sind, werden sie mit Medikamenten ruhiggestellt. Katharina Gugel und Ulf Eberle haben sie bei einem Experiment begleitet: Die elf Kinder, alle um die zehn Jahre alt, verbringen zwei Monate auf einer Alm, fernab von der Hektik des modernen Lebens und ganz ohne Tabletten. Hier müssen sie sich zusammenraufen, was sie zunächst mal wörtlich nehmen.

Tonfall ist empathisch, aber sachlich

Dem Film ist anzumerken, dass das Autoren-Team Verwechselbarkeiten mit vergleichbaren RTL-Formaten ("Teenager außer Kontrolle") tunlichst vermeiden wollte. Der Tonfall ist empathisch, aber sachlich. Die Exkurse ins Elternhaus kommen ohne jeden Verdacht von Sozialvoyeurismus aus, im Gegenteil. Die Verlängerung der üblichen Sendezeit von "37 Grad" um 15 Minuten ist ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig es der Redaktion war, das Thema seriös und umfassend zu behandeln.

Mütter angesichts unkooperativer Kinder überfordert

Genau darin liegt aber auch eine Schwäche des Films: Er will zuviel. Gugel und Eberle konzentrieren sich zwar auf ausgewählte Kinder, bieten aber trotzdem bloß schlaglichtartige Einblicke in die Monate auf der Alm. Die Beobachtungen des familiären Alltags vor dem Experiment sind ungleich aussagekräftiger; gerade die Mütter (Väter kommen nur am Rande vor) sind angesichts ihrer völlig unkooperativen Kinder überfordert. Gegen Ende gibt es einen kurzen Abstecher in ein Elternseminar, später schaut der Film noch rasch, ob das Projekt was gebracht hat.

Sehenswert und informativ

Als Dokumentation eines nicht unumstrittenen, gleichwohl faszinierenden Versuchs ist die Reportage ohne Frage wichtig. Wie so oft bei den "37 Grad"-Beiträgen fehlt allerdings der Blick fürs Grundsätzliche. Die möglichen Ursachen von ADS zum Beispiel werden praktisch gar nicht angesprochen. Nur kurz kann der Initiator des Projekts, der Gehirnforscher Gerald Hüther, andeuten, was diese typische Zivilisationskrankheit auslösen könnte. Und wenn er davon spricht, dass vielleicht die lebensfeindliche Umgebung in den Städten eine Rolle spielt, müsste selbstredend prompt die Nachfrage folgen, ob ADS ein urbanes Phänomen sei. Sehenswert und informativ ist der Film dennoch; vom Mut, den er betroffenen Eltern machen kann, ganz zu schweigen.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).