Skandale, Macht und Medien: Betrachtungen zum Fall Käßmann

Skandale, Macht und Medien: Betrachtungen zum Fall Käßmann
Skandale dienen dazu, Macht zu erhalten oder auszubauen, sagt Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt. Die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle - auch im Fall Käßmann. Im Interview erläutert er, dass der Skandal ein urchristliches Konzept ist, bei dem Aspekte der Moral und Wahrheit nur eine untergeordnete Rolle spielen.
25.02.2010
Von Henrik Schmitz

evangelisch.de: Herr Burkhardt, als Medienwissenschaftlicher haben Sie sich intensiv mit dem Phänomen des Skandals auseinandergesetzt. Sie behaupten, der Skandal ist ursprünglich sogar ein christliches Konzept. Wie muss ich mir das vorstellen?

Steffen Burkhardt: Der Skandal – Skandalon – ist ein Kernbegriff des Alten Testaments. Das Skandalon bezeichnet darin alles Böse, das von Gott wegführt. Das Konzept des Skandalons wurde gebraucht, um den moralischen Zusammenhalt und die Integrität der frühen christlichen Gruppen zu stärken und sich nach außen abzugrenzen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, dem wurde suggeriert, er befinde sich auf dem Weg des Skandalons, also weg von Gott, sozusagen zu einer vorchristlichen Achse des Bösen.

Das Konzept des Skandals

evangelisch.de: Wie sieht das Konzept des Skandals heute aus?

Burkhardt: Ich unterscheide drei Typen von Skandalen. Zum einen der alltägliche Skandal, einen Normverstoß, über den sich zwei Menschen im normalen Gespräch aufregen. Je mehr sich darüber aufregen, desto größer ist der Skandal. Dann gibt es den mediatisierten Skandal. Das ist ein Skandal, über den berichtet wird, der aber kaum Empörung auslöst, weil er uns nicht massiv betrifft. Ein Beispiel ist der Fall der nordirischen Politikergattin Robinson, die eine Affäre mit einem 19-Jährigen hatte. Über diesen Skandal haben uns die deutschen Medien informiert, ohne eine Welle der öffentlichen Empörung zu provozieren. Drittens gibt es den Medienskandal. Hier wird öffentliche Empörung ausgelöst, weil Medien einen angeblichen Normverstoß enthüllen. Übrigens spielt es dabei zunächst keine Rolle, ob die Geschichte wahr oder unwahr ist. Entscheidend für das Ausmaß des Skandals ist die Reaktion des Publikums.

evangelisch.de: Geht es bei einem Skandal im Kern tatsächlich um die Verletzung der Moral?

Burkhardt: Nur vordergründig. Letztlich geht es um die Aktualisierung von Macht- und Statusverhältnissen, wie man auch am Fall Käßmann beobachten kann. Der Streitpunkt bestand in der Frage, ob Frau Käßmann durch die Trunkenheitsfahrt nicht mehr die ethische Integrität besitzt, ihr Amt als Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende auszuüben. In dieser Frage gab es zwei unterschiedliche Lesarten. Die ablehnende Position sah ihre Integrität massiv beschädigt und wurde vor allem von einem konservativ-evangelikalen Lager vertreten. Dieses hat eine Frau – noch dazu geschieden – im Amt der Ratsvorsitzenden regelrecht als Zumutung empfunden. Für das andere Lager, das Frau Käßmanns Integrität nicht beschädigt sah, ist die Theologin eine progressive Vertreterin ihrer Kirche, die sich für Schwächere und den Frieden einsetzte. Dieses Lager hat nun durch den Rücktritt Käßmanns einen erheblichen Verlust an öffentlichem Einfluss erlitten.

Moralisch verwerflich?

evangelisch.de: Aber ist eine Autofahrt mit 1,54 Promille nicht tatsächlich moralisch verwerflich?

Burkhardt: Darüber kann man eben geteilter Meinung sein. Als Medienwissenschaftler fällt mir auf, dass die öffentlichen Rücktrittsforderungen aufgrund dieses Vergehens insgesamt sehr verhalten ausfielen. Nur wenige Kommentatoren sahen Margot Käßmanns Position massiv beschädigt. Aber warum? Vielleicht auch, weil ihnen eben die Person ohnehin ein Dorn im Auge ist. Und dann versuchen sie in der öffentlichen Debatte ihre Deutung durchzusetzen.

evangelisch.de: Welche Rolle haben die Medien in dem Fall gespeilt?

Burkhardt: Ein Skandal ist immer ein Kommunikationsprozess. Er entsteht aus dem Zusammenspiel aus der Geschichte selbst, in diesem Fall einer Trunkenheitsfahrt, und der Reaktion des Publikums. Im Fall Käßmann gab es beinahe eine Arbeitsteilung. Die "Bild" hat die Geschichte geliefert und sich ansonsten eher zurückgehalten. Die Häme haben andere Medien produziert.

Keine Kampagne

evangelisch.de: Die "Bild" hat also keine Kampagne gegen Käßmann gefahren?

Burkhardt:  "Bild" hat eine relativ neutrale Position in der Berichterstattung eingenommen. Käßmann und „Bild“ hatten in der Vergangenheit ein recht gutes Verhältnis. Die Bischöfin ist mit ihrem Privatleben ja auch selbst in die Öffentlichkeit gegangen, etwa mit ihrer Krebserkrankung, und ist auch deshalb so prominent und beliebt – nicht zuletzt bei den "Bild"-Lesern.

evangelisch.de: Ist ihr das nun zum Verhängnis geworden?

Burkhardt: Indirekt. Ein Skandal funktioniert immer nur dann, wenn das Publikum einen Antihelden, in diesem Fall Frau Käßmann, identifizieren kann. Im Fall der jahrelangen Vertuschung von Missbrauch in den Reihen der Katholischen Kirche etwa fehlt ein solcher Antiheld, ein klar zu identifizierender Schuldiger. Deshalb sorgt dies für weit weniger Empörung als das vergleichsweise geringere Fehlverhalten Käßmanns.

Vermeidbarer Rücktritt

evangelisch.de: Hätte Käßmann einen Rücktritt vermeiden können?

Burkhardt: Ein Ergebnis der Skandalforschung ist, dass ein Rücktritt immer vermeidbar ist. Der Papst tritt nicht zurück, obwohl er einen Holocaust-Leugner zurück in die Reihen der Kirche geholt hat. Aus ethischer Perspektive oder aufgrund des öffentlichen Drucks war Käßmanns Rücktritt sicher nicht zwingend. Aber sie hat sich aus freien Stücken zu diesem Schritt entschieden und letztlich kennt auch nur sie die privaten Gründe für diese Entscheidung.


Dr. Steffen Burkhardt lehrt Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg.

Er ist Autor des Grundlagenwerks "Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse"

 

 

 

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.