Filmkritik der Woche: "Shutter Island" (Scorsese)

Filmkritik der Woche: "Shutter Island" (Scorsese)
Die Insel der Wahnsinnigen: In „Shutter Island“, seinem ersten Horrorthriller, greift Martin Scorsese tief in die Genre-Trickkiste – und fördert lustvoll Schräges zutage.
25.02.2010
Von Patrick Seyboth

Die Erwartungen waren immens, und so ist es nur folgerichtig, dass auch die Enttäuschung bei vielen Kritikern groß war. Auf der Berlinale jedenfalls konnte Martin Scorseses neues Werk, das außer Konkurrenz lief, nur wenige überzeugen. Und doch hat Scorsese mit „Shutter Island“ auf spielerische Weise noch einmal neue filmische Freiheiten gefunden.

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Wieder einmal haben wir es mit einer obsessiven Hauptfigur zu tun, und zum bereits vierten Mal hat Scorsese sie mit Leonardo DiCaprio besetzt. Seekrank sehen wir seinen Marshal Teddy Daniels bei der Überfahrt auf die titelgebende Insel. Wir befinden uns im Jahr 1954, und auf dem kargen Shutter Island befindet sich nichts außer einer psychiatrischen Klinik für Schwerverbrecher. An diesem locus terribilis sollen Daniels und sein Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) untersuchen, wie eine mehrfache Kindsmörderin verschwinden konnte. Sie scheint sich einfach in Luft aufgelöst zu haben, und das sinistre Personal der Klinik scheint wenig interessiert an der Aufklärung des Falles.

Nichts ist, was es scheint

Erschwerend kommt der Zustand von Daniels hinzu: Er wird von Migräneattacken und traumatischen Erinnerungen heimgesucht, an seine Teilnahme bei der Befreiung des KZ Dachau und an die Ermordung seiner Familie durch den Pyromanen Andy Laeddis – den Daniels ebenfalls in der Klinik vermutet. Als sich merkwürdige Zeichen häufen und zudem ein Sturm die Insel von der Außenwelt abschneidet, bricht Daniels‘ Wirklichkeit immer weiter auseinander. Nichts ist, was es scheint; alles wird zum Zeichen für etwas anderes. Die Klinik: eine Experimentierstätte der CIA für Bewusstseinskontrolle? Daniels‘ Erinnerungen: nur ein Konstrukt, um mit einer noch unerträglicheren Wahrheit leben zu können?

Scorsese wird auch am Ende keine ganz eindeutige Antwort liefern. Identitäten und Realitäten werden dem Zuschauer unsanft um die Ohren geschlagen. Serviert wird das als genüssliche Kolportage aus unzähligen Elementen der Film- und Kunstgeschichte, Geisterbahneffekten und Anagrammen. Schon der Name des Anstaltsleiters Dr. Cawley, den Ben Kingsley gefährlich sanft interpretiert, spielt sowohl auf Dr. Caligari als auch auf den Magier respektive Scharlatan Aleister Crowley an. Max von Sydow als Arzt mit möglicher Nazivergangenheit öffnet wiederum ein Fenster auf eine ganz andere Geschichte, die Kontinuität des Nazipersonals und seiner Gräuel in der Geschichte des Kalten Krieges.

Niemandsland zwischen Trauma und Verdrängung

Scorseses Hantieren mit Motiven erschöpft sich aber nicht in postmodernistischem Bauklötzchenspiel. Auch wenn er einzelne Fäden nicht konsequent zuende spinnt und ein paar Plot Twists vorhersehbar sind, führt er doch tief ins Niemandsland zwischen Trauma und Verdrängung, Paranoia und Politik. Und erzählt damit ebenso viel über die psychische Befindlichkeit der USA in den frühen 50er Jahren (und bis weit in die Gegenwart) wie über die inhärente Logik von Verschwörungstheorien. Was aber das Schönste ist: Scorsese ist souverän und mutig genug, sein Thema nicht in biederer Geschmacksgewissheit abzuhandeln, sondern als klaustrophoben Alptraum mit trashigen Einschlägen. Das Ergebnis ist vielleicht kein Meisterwerk, das Werk eines Meisters ist es allemal.

USA 2009. Regie: Martin Scorsese. Buch: Laeta Kalogridis. Mit: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams, Patricia Clarkson, Max von Sydow. 138 Min. FSK 16, ff.

epd