Kinder, die kleinen großen Opfer des Haiti-Bebens

Kinder, die kleinen großen Opfer des Haiti-Bebens
Sie irren durch die Straßen der zerstörten haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, toben lärmend durch die Flüchtlingslager, sie lachen und weinen zugleich, leiden Hunger und verpassen jeden Tag ohne Schule ein Stückchen Chance auf eine bessere Zukunft. Die Kinder sind die kleinen großen Opfer des Jahrhundertbebens in dem bitterarmen Karibikstaat. Und als ob der tausendfache Tod und die Zerstörungen um sie herum nicht schon genug Leid wären, warnen internationale Hilfsorganisationen nun auch noch vor Kinderhändlern, die selbst angesichts der apokalyptischen Katastrophe nicht vor Entführung von Kindern zurückschrecken.
25.01.2010
Von Silvia Ayuso

Gefährdet sind vor allem Waisen und Kinder, die verloren zwischen den Trümmern der Millionenstadt nach ihren Eltern suchen. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 500 000 Minderjährige durch das Beben in Mitleidenschaft gezogen. Schon für Erwachsene ist Haiti kein einfaches Land, ganz zu schweigen von den Kindern.

Ein klares Indiz für die Not zehntausender Jungen und Mädchen sind jedoch die Berichte der Waisenhäuser. Der Strom der Kinder, die bei ihnen um Unterschlupf bitten, reißt nicht ab. Viele kommen allein, andere werden von Fremden abgegeben, die sich ihrer irgendwo auf der Straße angenommen haben. Sogar Eltern lassen ihre Kinder in Waisenhäusern, weil sie alles verloren haben und ihre Kinder einfach nicht mehr selbst durchbringen können.

Überfüllt mit traumatisierten kleinen Kindern

Ein typisches Beispiel ist das Christliche Waisenhaus von Haiti in Port-au-Prince. 56 Kinder lebten hier vor dem Beben, jetzt sind es fast doppelt so viele. Die Neuankömmlinge wissen nicht, wo ihre Eltern sind, nicht einmal, ob sie noch leben. Die meisten sind zwischen sechs und zwölf Jahre alt, manche auch jünger, sogar einige Babys sind dabei.

Die Zahl von mehr als 100 Kindern übersteigt die Möglichkeiten des Heims, das von einem Bibelzentrum "Die Kathedrale" im US-Bundesstaat Indiana unterstützt wird. Zwar ist das Heim bei dem Beben kaum beschädigt worden, aber es ist seither total überfüllt mit traumatisierten kleinen Kindern. Außerdem haben hier mehrere Dutzend Familien eine Bleibe gefunden, die alles verloren haben. Deren Kinder werden auch betreut, so lange die Eltern Lebensmittel oder Arbeit suchen.

"Eigentlich können wir niemanden mehr aufnehmen", klagt der 22-jährige Reginald Fourquand, einer der Betreuer. "Aber wir können doch auch niemanden draußen lassen", beschreibt er das Dilemma. Er selbst ist hier aufgewachsen und kennt die beschränkten Möglichkeiten des Heims nur zu gut. Trotz aller gegenteiligen Bemühungen macht der Bau einen düsteren Eindruck.

Jeder Erdstoß bedeutet Panik

Das gilt noch mehr nach dem Beben, das alles auf den Kopf gestellt hat. Der Vorratsraum und der hintere Hof mussten zu einer Feldküche umgewandelt werden, wo über offenem Feuer gekocht wird. Es gibt nicht einmal genug Kessel. "Wir haben noch überhaupt keine Hilfe erhalten und benötigen dringend Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente", wiederholt Fourquand eine Klage, die in diesen Tagen tausendfach in Haiti zu hören ist. Erst in den vergangenen Tagen ist die internationale Hilfe langsam bei den Bedürftigen angekommen und die Lage beginnt sich etwas zu entspannen.

Sogar die kleine Schule des Waisenhauses musste für die Neuankömmlinge geräumt werden. Allerdings sei das im Augenblick nicht wirklich schlimm, denn Unterricht sei für die Kinder angesichts der schrecklichen Erlebnisse sowieso noch nicht ratsam, sagt Fourquand. Bei jedem der dutzenden Nachbeben seit dem 12. Januar geraten die Jungen und Mädchen in Panik. Die Angst vor den Erdstößen ist so groß, dass viele Kinder entgegen des Rats der Betreuer ihre Matratzen aus den Metallbetten gezerrt und auf die Straße geschleppt haben. Sie haben einfach zu große Angst, dass ihnen das Haus auf den Kopf fallen könnte.

Eisernes Eingangstor nun fest verschlossen

Trotz ihrer beschränkten Möglichkeiten versuchen die Betreuer, den Kindern durch Beschäftigungstherapie zu helfen. Vor allem lassen sie ihre Schützlinge so viel und so oft wie möglich spielen, mit allem, was gerade zur Hand ist, mit einem alten Ball etwa oder einem altersschwachen Roller. "Wir versuchen, viel mit ihnen zu sprechen, sie zum Spielen anzuregen, mit ihnen zu spielen, damit sie das Geschehene vergessen können, denn wenn das alles in ihren Köpfen bleibt, wird es ihnen sehr schlecht ergehen", sagt der junge Mann.

Die Mitarbeiter des Waisenhauses sind sich jedoch auch der Gefährlichkeit der augenblicklichen Situation für ihre kleinen Zöglinge bewusst. Dies betrifft unter anderem auch übereilte Adoptionen. Deshalb habe das Heim zunächst alle Adoptionen ausgesetzt. Dies werde so bleiben, bis der Leiter des Waisenhauses, der US-Pastor Rick Vanhoose, eintrifft. "Der Leiter wird entscheiden, wie es weitergehen soll. So lange werden wir nichts unternehmen", sagt Fourquand. Bis dahin haben die Betreuer Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Das eiserne Eingangstor, das früher als Zeichen der Gastfreundschaft immer offen stand, ist nun fest verschlossen. Ein Wachmann steht davor und auch die älteren Waisen passen auf, dass keiner der kleineren Kinder verloren geht.

dpa