Kulturhauptstadt als Wintermärchen im Revier

Kulturhauptstadt als Wintermärchen im Revier
Auf den Gebäuden von Zeche Zollverein liegt Schnee, für den Gang über das weitläufige Industriegelände sind dicke Schuhe mit rutschfesten Sohlen Pflicht. Der Kulturhauptstadt-Traum des oft als "Kohlenpott" unterschätzten Ruhrgebiets beginnt an diesem Samstag als Wintermärchen: Neuer Schneefall ist sicher, und die Wetterdienste warnen vor Schneeverwehungen und eisigem Nordostwind. Die Leute im Pott allerdings wollen die Eröffnungsfeier nicht absagen.
09.01.2010
Von Rolf Schraa

Da der gut einstündige Festakt zur offiziellen Eröffnung der Kulturhauptstadt 2010 in Essen und dem Ruhrgebiet mit Bundespräsident Horst Köhler und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso ungeheizt und unter freiem Himmel direkt vor der spektakulären Kulisse der Kokerei Zollverein stattfindet, gab es Sorgen, alles müsse wegen des widrigen Wetters verschoben werden.

"Nur im absoluten Notfall, wir ziehen das durch", sagt jedoch Ruhr.2010-Chef Fritz Pleitgen. Die 1200 Gäste des Festaktes bekommen "Überlebenspäckchen" mit Sitzkissen, Decke und Handwärmern. "Windstärke 8 ist angekündigt. Das ist typisch Ruhrgebiet: rau aber herzlich", sagte Pleitgen am Freitagnachmittag bei der Generalprobe der Eröffnungsfeier auf dem Zechengelände. Dabei präsentierte Sänger Herbert Grönemeyer auch erstmals sein neues Lied auf das Ruhrgebiet. Die Hymne "Komm zur Ruhr" lobt die gut 5 Millionen Bewohner der Region als "urverlässlich, sonnig, stur".

100.000 Gäste werden erwartet, trotz Schneesturm "Daisy"

Am Freitagabend ließen zum Auftakt des Kulturhauptstadtjahres hunderte Kirchen in der Region ihre Glocken läuten. In einer Zeit voll Hektik und Materialismus suchten Menschen verstärkt nach einem Gegengewicht, sagte der Präses der evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, bei einem ökumenischen Gottesdienst im Essener Dom. Das sei für viele die Spiritualität oder auch die Kunst. Die christlichen Kirchen beteiligen sich stark am Programm der Kulturhauptstadt - unter anderem mit einem Pop-Oratorium "Die zehn Gebote" und einer Reihe von Orgelkonzerten in vielen Kirchen.

Beim Eröffnungsfestakt ist neben den Reden der Politiker ein Kulturprogramm unter anderem mit Rap, Breakdance und moderner Bläsermusik geplant. Danach öffnet die Zeche mit einem bunten Kulturfest und Ausschnitten aus dem 2010-Programm des ganzen Jahres für Besucher. Bis zum Sonntagabend erwarten die Organisatoren rund 100.000 Gäste. Ein Hauptanziehungspunkt wird dabei das neue Ruhrmuseum über Geschichte und Alltagskultur der Region, das ebenfalls am Wochenende öffnet.

Zusammen mit Essen sind in diesem Jahr die ungarische Stadt Pécs und die türkische Metropole Istanbul zu europäischen Kulturhauptstädten ernannt worden. In Pécs wird das Programm an diesem Sonntag, in Istanbul am 16. Januar eröffnet.

Wandel durch Kultur - die neue Chance für'n Pott

Pleitgen will mit dem Programm im Revier den wirtschaftlichen Wandel im Ruhrgebiet in Szene setzen, der schon mit der Kohlekrise Ende der 50er Jahre begonnen hat: Seitdem sind hunderttausende Jobs in Zechen weggefallen, die Hochöfen von Hoesch, Krupp und Thyssen starben - aber gleichzeitig entstanden im Ruhrgebiet neue Stellen etwa in der Medienwirtschaft, rund um die erfolgreichen Neu-Universitäten Bochum und Duisburg-Essen und im Gesundheitswesen.

"Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel", lautet das Motto der rund 2.500 Veranstaltungen und 300 Projekte der Kulturhauptstadt. Die Idee spiegelt sich in Bauwerken, die dem Ruhrgebiet noch lange nach dem Festjahr mit erwarteten fünf Millionen Besuchern erhalten bleiben - etwa dem fast 50 Millionen Euro teuren Dortmunder Kulturzentrum "U", das aus einem ehemaligen Brauerei-Lagerhaus entstand.

Gut 62 Millionen Euro kostet die Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet. Davon habe knapp 19 Millionen Euro der Bund beigesteuert - allein 1,1 Millionen Euro für die Eröffnungsfeier, sagte Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Die Bundesregierung setze damit ein deutliches Zeichen für die Kultur in schwierigen Zeiten.

"Wir werden immer noch unterschätzt"

Weitaus größere private Gaben, etwa für das spektakuläre neue Folkwang-Museum in Essen, kamen hinzu. Mit hochkarätigen Musik-, Theater- und Ausstellungsreihen und Breitenveranstaltungen zum Mitsingen und für Kleinkunst soll das Festival helfen, europaweit die Klischees vom grauen Kohlenpott endgültig aus den Köpfen zu vertreiben. "Wir werden immer noch unterschätzt, das war auch bei der Bewerbung so: Da hatte uns gegen Städte wie Köln und Bremen doch keiner so richtig auf der Rechnung", sagt Pleitgen.

Jetzt nennt der Ruhr 2010-Sprecher Marc Oliver Hänig das Medienecho auf die Eröffnung "schlicht sensationell". Mehr als 500 Journalisten und 20 Kamerateams haben sich angemeldet. "So ist sicher noch keine Kulturhauptstadt begrüßt worden", meint Pleitgen. Das ZDF zeichnete am Freitag im Gelsenkirchener Musiktheater eine Gala mit Stars aus dem Ruhrgebiet auf, die am späteren Abend gesendet werden sollte. Für den Wochenend-Einsatz auf Zeche Zollverein hat die Pressestelle angesichts des erwarteten Wintereinbruchs besondere Maßnahmen ergriffen: Für die Mitarbeiter wurden 20 rote Schals bestellt - damit man sie im Schnee besser erkennen kann.

dpa