Blindheit: "Plötzlich war da nur noch weißer Nebel"

Blindheit: "Plötzlich war da nur noch weißer Nebel"
Zwei Frauen, zwei Schicksale: Beide kamen sehend auf die Welt, beide haben im Laufe der Jahre ihr Augenlicht verloren. Nicht plötzlich durch einen Unfall, sondern stetig, langsam und spürbar. Für beide war es schwierig, aus der Welt der Sehenden den Weg in die Welt der Blinden zu finden. Angst, Mutlosigkeit, dann aber wieder Hoffnung und Lebensfreude: Ein Bericht über zwei bemerkenswerte Lebenswege.
08.01.2010
Von Cornelia Kurth

Sabine Nett (47) aus Bückeburg war elf Jahre alt, als sie merkte, dass mit ihren Augen etwas nicht stimmt. Während einer Nachtwanderung mit ihrer Schulklasse, als alle anderen sich im Dämmerlicht und mit Hilfe von Taschenlampen einigermaßen orientieren konnten, war sie schlichtweg einfach blind. "Ich hielt mich an den Schultern eines Mitschülers fest und hatte richtig Angst", sagt sie. Aber erst, als sich eine zunehmende Sehschwäche auch im Alltag bemerkbar machte, wurde die Diagnose gestellt: Retinitis pigmentosa, eine degenerative Netzhauterkrankung, bei der die Lichtrezeptoren im Auge nach und nach absterben. Unaufhaltsam. Keine Frage, dass sie über kurz oder lang vollkommen erblinden würde. "Ich war sechzehn, als ich das erfuhr, und ich fühlte mich plötzlich wie vom Leben abgeschnitten."

Eines ihrer schönen, großen, dunkelblauen Augen hat seinen Dienst inzwischen versagt, das andere verfügt zwar noch über einen Rest an Sehkraft, aber nur mit einem vernebelten "Tunnelblick". Konturen kann Sabine Nett noch erkennen, aber keine Gesichter mehr, Lesen ist mit hoher Konzentration noch möglich, nicht aber ein erkennender Blick in die Landschaft. In ihrer Wohnung kommt sie sehr gut klar und Besucher würden nicht vermuten, dass sie kaum etwas sieht, doch allein in die Stadt zu gehen - unmöglich. "So seltsam es klingt, mein Problem ist, dass ich überhaupt noch etwas sehen kann", sagt sie. "Ich bin noch nicht in der Blindheit angekommen. Ich sitze wie zwischen den Stühlen und weiß nicht: Soll ich alle Kraft dafür verwenden, wie eine Sehende zu leben, oder mich mit aller Kraft darauf stürzen, die Blindenschrift zu lernen, das Gehen mit dem Blindenstock zu trainieren und mein Schicksal annehmen."

Eines Morgens nur noch weißer Nebel

Eine kurze Zeitlang erging es Daniela Rinck-Eidler (42) aus Obernkirchen nicht viel anders. Die zarte, sehr jung wirkende Frau mit ihrem dunklen Wuschelkopf, verlor ihr Augenlicht drei Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes. "Ich wachte eines Morgens auf - und da war nur noch ein weißer Nebel", erzählt sie. Niemand wusste, was die Ursache für die vorliegende katastrophale Entzündung der Netzhäute gewesen sein könnte. Innerhalb kurzer Zeit verschlechterte sich der Zustand der Augen und schließlich mussten ihr künstliche Linsen eingesetzt werden. Die Augenflüssigkeit, die verhindert, dass sich die Linsen gegen den Augenhintergrund drücken, wurde durch Silikon ersetzt. "Ja, andere Frauen haben das Silikon in den Brüsten, ich habe es in den Augen", sagt sie mit Galgenhumor.

Gib nicht auf! meinten ihre Verwandten, such dir Ärzte oder Wunderheiler, da muss doch was zu machen sein. Daniela Rinck-Eidler aber entschied sich dazu, nicht mehr auf ein Wunder zu hoffen, sondern sich der Blindheit zu stellen. "Was sollte ich anderes tun", meint sie. "Auf dem einen Auge sehe ich gar nichts mehr, auf dem anderen besitze ich noch zwei Prozent Sehkraft. Es gab eine Zeit, da wagte ich kaum, morgens nach dem Schlaf die Augen zu öffnen, weil ich solche Angst hatte, auch den letzten Lichtschimmer verloren zu haben. Aber um solche Ängste schere ich mich jetzt nicht mehr."

Auch Blinde wollen keine grauen Mäuse sein

Inzwischen kann sie die Blindenschrift lesen, sie lernt, wie man sich mit dem langen weißen Stock orientiert und sie machte ein spezielles Training, bei dem sie jede Menge Tipps und Tricks erfuhr, wie man trotz Blindheit im Haushalt zurecht kommt. Im Niedersächsischen Blindenbund arbeitet sie als ehrenamtliche Beraterin, um andere Menschen während des Prozess des Erblindens zu begleiten. Und ihr Mann, ihre beiden kleinen Kinder, sie sind schon perfekt geübt darin, alles, was es ringsum zu sehen gibt, mit möglichst anschaulichen Worten zu beschreiben. "Ich habe ja noch Glück", sagt sie. "So viele Erinnerungen tragen dazu bei, dass ich mir Landschaften, Menschen, Bilder einigermaßen gut vorstellen kann."

Sabine Nett und Daniela Rinck-Eidler kennen sich. Kürzlich beteiligten sich beide mit eigenen Texten an einem Hörbuch, das sich mit einem Spezialthema des Blindseins befasst, dem Verhältnis von blinden Menschen zu ihrem eigenen Aussehen. "Blind Beauty" heißt das Hörbuch (ISBN 978-3-00-028653-7), herausgegeben von der ebenfalls blinden physiotherapeutischen Heilpraktikerin Heike Herrmann, die 15 Menschen aus ganz Deutschland für ihr interessantes Projekt gewinnen konnte. "Soll man unscheinbar bleiben, wenn man behindert ist", fragt Sabine Nett, "eine graue Maus sein und möglichst keinen Blick auf sich ziehen? Nein - ich will trotzdem schön sein!"

Nach außen hin stark wirken

Daniela Rinck-Eidler sieht das genau so. "Früher bin ich immer nur durchgestylt aus dem Haus gegangen", sagt sie. " Ich will mich auch weiterhin als Frau fühlen." Wenn sie Kleidung einkauft, dann hat sie immer ein Farberkennungsgerät dabei, ihre Friseurin sorgt dafür, dass die Frisur mit wenigen Handgriffen prima sitzt, und immer noch schminkt sie sich: "Ja, das tue ich sogar vor dem Spiegel, obwohl ich mich gar nicht mehr sehe - und ich bin stolz darauf, dass ich mir sogar selbst die Wimpern tuschen kann!"

Schön sein heißt aber auch, auf den ersten Blick "normal" zu wirken und damit das Signal dafür zu geben, unkompliziert ansprechbar zu sein. Für Sabine Nett war das lange Zeit damit verbunden, ihre Sehbehinderung zu überspielen, so zu tun, als habe sie gar keine Probleme, und gleichzeitig ständig darüber nachzudenken, ob man ihr etwas anmerkt, ob sie vielleicht seltsam auffällt. "Ich habe das Bedürfnis, nach außen hin stark zu wirken", sagt sie. "Einerseits würde ich gerne allen sagen, was ich noch sehe und was nicht, andererseits aber hasse ich Mitleid und möchte gar nicht wissen, was die anderen über mich denken." Bis zur Geburt ihres ersten Kindes arbeitete sie weiter als Arzthelferin, danach in Teilzeit als Schreibkraft und erst, als sie hätte umschulen müssen, um trotz der Sehbehinderung weiter berufstätig bleiben zu können, blieb sie als Hausfrau bei ihren drei Kindern zuhause.

Keine Chance auf Heilung, aber kein Grund zum Aufgeben

Für Daniela Rinck-Eidler ist das Interesse am eigenen Aussehen auch ein Zeichen dafür, dass man sich selbst nicht aufgibt. "Ich habe erlebt, wie andere den Mut verloren. Das ist schrecklich traurig. Es gibt nämlich keinen Grund, alles aufzugeben." Als sie wieder schwanger wurde, fragte sie der Arzt: "Sind Sie sicher, dass Sie dieses Kind wollen?" Und sie antwortete: "Wieso, fehlt dem Kind was?" Sie fühle sich selbst nicht behindert, nur sei das Leben eben von Grund auf umgewälzt worden. "Es ist schon eigenartig, dass ich meinen kleinen Sohn Julius noch nie gesehen habe", sagt sie. "Aber ich kenne die Konturen seines Gesichtes, seine Stimme, an der ich seine Stimmungen ablese, ich habe ihn eben immer auf dem Fußboden und nicht auf der Kommode gewickelt, und als er noch überall herumkrabbelte, band ich ihm ein Glöckchen auf den Rücken und wusste dann, wo er gerade war."

Heilungschancen gibt es weder für Sabine Nett noch für Daniela Rinck-Eidler, eine Rückkehr in die Wahrnehmungswelt der Sehenden ist unmöglich. Sabine Nett wird demnächst damit beginnen, die Punktschrift zu lernen, Daniela Rinck-Eidler perfektioniert das Spracherkennungsprogramm ihres PCs. Beide wissen, wie viel Unterstützung man vom Landesblindenverband bekommt, um trotz der Behinderung am Alltagsleben teilnehmen zu können. Auch die Agentur für Arbeit hat Mitarbeiter, die speziell für Menschen mit Behinderungen zuständig sind. Daniela Rinck-Eidler, ausgebildete Heilpraktikerin, will in ihren Beruf zurückkehren und plant eine psychotherapeutische Fortbildung. Sabine Nett sagt jetzt: "Lange hatte ich Angst, dass ich das Leben verpasse, wenn ich mich auf die bevorstehende totale Erblindung einrichte. Das ist nicht mehr so. Ich hatte 30 Jahre Zeit, mich darauf einzustellen. Ich bin bereit dafür, in der Blindheit anzukommen."


Cornelia Kurth ist freie Journalistin und schreibt für evangelisch.de.