Weihnachtsteller verboten: Heiligabend hinter Gittern

Weihnachtsteller verboten: Heiligabend hinter Gittern
Weihnachten hinter Gittern tut weh. Das weiß der Inhaftierte Rainer M. aus eigener Erfahrung. Er sitzt seit elf Jahren im Gefängnis, hat schon die verschiedensten Weihnachtsabende hinter sich gebracht, vom Krankenbett bis zum Wohngruppenvollzug. Eine weihnachtliche Geschichte der etwas anderen Art.
21.12.2009
Von Christine Kükenshöner

Der zuständige Anstaltsarzt war längst zuhause, um den Heiligen Abend mit seiner Familie zu verbringen. Da schellte es an der Tür. Draußen im Dunkeln standen zwei Bundeskriminalbeamte und zwischen diesen ein sehr sehr müder Mann. Dass der 50-jährige Mann haftfähig sei, diagnostizierte der Arzt an Ort und Stelle vor der Haustür. Etwas anderes hatte man auch nicht erwartet, sonst wäre die ganze Reise vom Krankenhaus in Rosenheim bis zum Vorort von München umsonst gewesen.

Dann brachte man Rainer M. in die JVA München-Stadelheim, wo man ihm zu allererst das einzige Geschenk wieder abnahm, das er an diesem Heiligabend bekommen hatte: Einen bunten Teller mit Süßigkeiten. Die Schwestern im Krankhaus hatten Rainer M. den Weihnachts-Teller zum Abschied geschenkt – die erste freundliche Geste seit seiner Festnahme vor zwei Tagen, seit den nächtlichen Verhören, seit seinem morgendlichen Kreislaufkollaps und seit dem Aufwachen im Krankenhausbett. Zwei Polizisten hielten bei ihm Wache. Sie gaben ihm zu verstehen, dass er dankbar zu sein habe angesichts der Tatsache, dass man ihn nicht sofort erschossen hätte.

Lage: Aussichtslos

Während des Transports nach München hielt Rainer M. den kostbaren Teller mit beiden gefesselten Händen ganz fest, auf dass ja nicht eine der Schoko-Weihnachtskugeln verloren ginge. Seinen Blick heftete er auf die im Licht der Scheinwerfer und Straßenlaternen verheißungsvoll aufblitzenden, kunstvoll eingepackten Kügelchen. Die Beamten im Tor waren jedoch der Meinung, dass Weihnachts-Teller im Gefängnis verboten sind. Rainer M. war bereit, seinen Schatz zu verteidigen. Aber er musste bald einsehen, dass seine Lage aussichtslos war. Im letzten Augenblick, bevor man ihm den Teller entriss, stopfte er sich noch drei Schokokugeln auf einmal in den Mund. Nach der Leibesvisite brachte man ihn auf die Krankenstation.

Den anderen Männern im Zimmer, mit denen er die letzten Stunden des Heiligen Abends und die weiteren Feiertage zu verbringen hatte, brauchte sich Rainer M. nicht mehr vorzustellen. Sie kannten ihn bereits. In allen Medien war über seine Festnahme berichtet worden. Seine zehn Zimmerkollegen ließen ihn in Ruhe. Der Fernseher lief und Rainer M. schlief ein mit dem Gedanken an einen liebevoll zusammengestellten Weihnachts-Teller und an jene Männer im Tor, die sich sein Geschenk jetzt gewiss schmecken ließen.

Genuschelte Weihnachtsgrüße

Sein zweites Weihnachtsfest hinter Gittern erlebte Rainer M. erneut im Krankenbett. Nach einem Schlaganfall hatte man ihn ins Haftkrankenhaus Berlin-Moabit gebracht. Weihnachtliche Großzügigkeit zeigten die Pfleger, indem sie über die Feiertage reichlich Beruhigungsmedikamente austeilten – Schlummern gegen die Einsamkeit.

Plötzlich jedoch, zu Anbruch der Heiligen Nacht, wurden Rainer M. und seine beiden Bettnachbarn aus ihrem Dämmerzustand herausgerissen: Die Tür wurde aufgeschlossen und herein trat die Sozialarbeiterin. Längst hätte sie Dienstschluss gehabt. Aber die Frau bat die Männer einen nach dem anderen in ihr Büro. Dort drückte sie Rainer M. den Hörer ihres Diensttelefons in die Hand und fragte ihn, wen er anrufen möge. "Ich wünsche dir frohe Weihnachten", nuschelte er seiner Frau ins Ohr und noch einmal – sich konzentrierend und so deutlich er konnte – "Frohe Weihnachten" in das Ohr seiner dreijährigen Tochter. Denn Rainers Zunge war noch schwerfällig nach dem Gehirnschlag.

Drei-Gänge-Menü im "Wohngruppenvollzug"

Elf Monate später hatte man Rainer M. eine 5,24 Quadratmeter große Zelle im Aufnahmehaus der JVA Berlin-Tegel zugewiesen. Dass in diesem Zellentrakt jemals Weihnachten wurde, daran kann er sich nicht erinnern. 23 Stunden Einschluss – das galt an Wochentagen wie an Feiertagen. Gewiss hörte er am 24. Dezember das Läuten der Gefängniskirchenglocken. Vielleicht hat er sich auch auf sein Bett gestellt und durch das kleine vergitterte Fenster herüber geschaut zu dem großen beleuchteten Fenster der Kirche, die keine 100 Meter weit entfernt stand. Er weiß es nicht mehr.

Das Privileg, den Weihnachtsgottesdienst zu besuchen, bekam er erst in den Jahren darauf, nachdem er erneut in ein anderes Haus verlegt worden war. "Wohngruppenvollzug" klingt humaner und ist es auch. Auf seiner Zelle, die nun sieben Schritte bis zum Fenster misst, hat Rainer M. warmes Wasser. Die Zellentür wird nur noch über Nacht sowie während der dreimal täglichen Zählungen zugeschlossen. Zum Weihnachtsfest im vergangen Jahr kochte er zusammen mit zwei Mitgefangenen ein Drei-Gänge-Menü. Denn in der Adventszeit ist die Knast-Einkaufsliste etwas reichhaltiger: Es gibt Fleisch für Rollbraten, Kassler und Steak. Man kann Teelichter bestellen sowie Adventsgestecke aus der hauseigenen Gärtnerei, sofern man das Geld hat. Sogar farbige Servietten trieb Rainer M. für das gemeinsame Festmahl auf und faltete sie.

Elf Mal Heiligabend hinter Gittern

Und wenn er wollte, könnte er sich selbst einen großen Weihnachts-Teller mit Schokokugeln zusammenstellen, aber das lindert nicht den Schmerz. Weihnachten tut weh. Die Kartengrüße an seine Ex-Frau und Tochter bleiben unbeantwortet. Da draußen wartet keine Familie mehr auf seinen Anruf, auf ein mühsam in den Hörer gestammeltes "Frohe Weihnachten".

Zur Person: Rainer M. (Name geändert) sitzt seit elf Jahren eine lebenslängliche Haftstrafe ab. In diesem Jahr bekommt er zum ersten Mal über die Weihnachtsfeiertage Hafturlaub. Eine befreundete Familie hat ihn zum Fest eingeladen.


Christine Kükenshöner ist Journalistin und Theologin aus Leipzig und schreibt gelegentlich für evangelisch.de.