"Weihnachten ist für Inhaftierte eine angstbesetzte Zeit"

"Weihnachten ist für Inhaftierte eine angstbesetzte Zeit"
Anke Augustin-Seier arbeitet als Pfarrerin in der Justizvollzugsanstalt in Essen. Dort sind 530 Männer inhaftiert. Mit den Weihnachtsfeiertagen stehen der Pfarrerin und den Häftlingen anstrengende Tage bevor, da der normale Alltag eines Gefängnis einfach zum Ruhen kommt. Im Interview berichtet die Pfarrerin von ihrer Arbeit an Weihnachten.
21.12.2009
Das Interview führte Stefan Becker

evangelisch.de: Frau Augustin-Seier, können Sie uns kurz schildern, wer in der Justizvollzugsanstalt Essen einsitzt und welche Rolle die Religion hinter den dicken Gefängnismauern spielt?

Anke Augustin: In der JVA Essen sind rund 530 Männer inhaftiert, alle älter als 21 Jahre und sie leben getrennt voneinander entweder in der Untersuchungshaft oder im Regelvollzug, wo dann die Strafe verbüßt wird. Bei uns sind alle Religionen vertreten, aber überwiegend Muslime und Christen oder im christlichen Kulturkreis sozialisierte Menschen. Die konfessionelle Bindung tendiert dabei gegen null – kaum jemand weiß, ob er getauft ist und es existiert auch so gut wie keine Beteiligung am traditionellen Gemeindeleben. Einzig die Häftlinge mit polnisch-katholischen Wurzeln bilden da eine Ausnahme. So wissen die wenigsten, was das Weihnachtsfest aus biblischer Sicht bedeutet.

Paketempfang und Suizidgedanken


evangelisch.de:
Was unterscheidet dann die Weihnachtszeit von den übrigen 360 Tagen im Gefängnis-Alltag? Wird sie überhaupt wahrgenommen?

Anke Augustin: Die Weihnachtszeit ist eine "aufgeregte Zeit": Einerseits ist der Paketempfang von Angehörigen erlaubt und der ist nur dreimal im Jahr gestattet, eben zu Weihnachten, Ostern und einmal nach freier Wahl. Das ist der positive Aspekt. Eher negativ wirkt sich dagegen das Ruhen des normalen Alltags aus, der wenn auch bescheidene, aber wenigstens vorhandene Abwechselungen und Bewegungsmöglichkeiten im Haus bietet wie Arbeit in den Werkstätten, Sport oder andere Freizeitaktivitäten. Die Männer sind dieses Jahr von Heiligabend bis Montag (28. Dezember) weitgehend in ihren Hafträumen verschlossen. Diese Situation erhöht leider die Anfälligkeit für depressive Stimmungen, Suizidgedanken oder gar Selbstverletzungen.

evangelisch.de: Warum das?

Anke Augustin: Inhaftierte sind vor allem vereinsamte Menschen. Die Unfähigkeit oder auch Chancenlosigkeit, sich im sozialen Umfeld angemessen zu verorten, hat sie hierher gebracht – und die Haft kappt dann häufig die letzten, ehedem störanfälligen Außenbeziehungen. Je sentimentaler oder verkitschter Weihnachten dabei empfunden wird, als Fest der Liebe, der Familie, der Gemeinschaft, desto stärker rückt es die Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit des eigenen Lebens ins Bewusstsein. Schuldgefühle und Selbsthass brechen dann leicht durch. Mitarbeitende der JVA sind in erhöhter Aufmerksamkeit während der Weihnachtszeit, um eventuelle Kurzschlusstaten wie Selbstverletzungen oder Gewaltausbrüchen im Vorfeld angemessen begegnen zu können.

Viele Teilnehmer bei Gottesdiensten


evangelisch.de:
Gibt es ein gemeinsames Weihnachtsfest von Insassen und Mitarbeitern der JVA inklusive Tannenbaum?

Anke Augustin: Adventskränze und Tannenbäume stehen in der Kirche und an verschiedenen Plätzen des großen Gebäudes. Aber ein gemeinsames Weihnachtsfest aller hier Inhaftierten wäre schon deshalb nicht möglich, weil ja sowohl Untersuchungsgefangene als auch Strafgefangene einsitzen. Die beiden Gruppen müssen im Vollzug getrennt leben. Zudem wären Sicherheit und Ordnung in der Anstalt angesichts einer solchen zahlenmäßigen Menge und zudem psychisch häufig auffälliger Menschen nicht zu gewährleisten. Dafür fanden mehrere Einzelfeiern statt, jeweils in den Arbeits-, Sport- oder Freizeit-Gruppen. Dort sind dann auch die diese Gruppen begleitenden oder leitenden Justizbediensteten wie die Sportbeamten anwesend. Ich habe zum Beispiel mit meiner Paargruppe ein Pizza-Essen veranstaltet.

evangelisch.de: Leben Sie hinter den dicken Mauern die Ökumene und gibt es zu Weihnachten einen gemeinsamen Gottesdienst? Und wieviele Stühle werden frei bleiben?

Anke Augustin: Mein römisch-katholischer Kollege und ich leben in guter, fruchtbarer ökumenischer Gemeinschaft – vielleicht auch gerade deswegen, weil wir auf unsere konfessionellen Unterschiede achten. Weihnachten bieten wir täglich eine Messe und einen evangelischen Gottesdienst an. Am vergangenen Dienstag habe ich ein Feierabendmahl angeboten: 60 Inhaftierte nahmen teil und wir hatten keinen einzigen Platz mehr frei – und es gab noch weit mehr Interessenten. So rechnen wir auch zu Weihnachten mit vielen Teilnehmern.

evangelisch.de: Wie läuft der Gottesdienst ab?

Anke Augustin: Der Gottesdienst verläuft etwas feierlicher als normal, dazu gehören die traditionellen Weihnachtslieder, begleitet auf der Querflötenspiel; wir entzünden Kerzen, die dann mitgenommen werden dürfen in die Hafträume.

Ein "Ja", das mächtiger ist als die vielen "Neins" in den Biographien


evangelisch.de:
Singen die Männer kräftig mit?

Anke Augustin: Die Männer singen gar nicht. Singen als entäußernde Darstellung bewirkt Schamgefühle/Verlegenheitsgefühle bei den Inhaftierten. Ich habe aber einen externen evangelischen Chor mit zwölf Teilnehmern und einen Kirchenmusiker als Chorleiter eingeladen – die Männer werden dann singen.

evangelisch.de: Welche Botschaft bekommen die Häftlinge dieses Jahr mit auf den Weg zurück in die Zellen?

Anke Augustin: Es gibt jenes "Ja", das mächtiger ist als die vielen, die Biographien der Inhaftierten fast durchgängig durchziehenden "Neins". Dieses "Ja" findet einen Weg in unsere Welt: als Kind, das geboren wird unter den Bedingungen der Marginalisierten, Verschuldeten, Gescheiterten – darüber werde ich sprechen.

evangelisch.de: Mit welchen Wünschen wenden sich Verwandte und Freunde zu Weihnachten speziell an sie?

Anke Augustin: Angehörige bitten um zusätzliche Besuchsmöglichkeiten und Gelegenheit zu Telefonaten mit den Inhaftierten und vergangenen Sonntag habe ich eine Weihnachtsfeier für inhaftierte Väter mit ihren Familien durchgeführt.

Angst und Selbstmitleid


evangelisch.de:
Die Haft bietet bestimmt viel Zeit zur Besinnung - welchen besonderen Wert besitzt da noch Weihnachten?

Anke Augustin: Die Weihnachtszeit ist recht angstbesetzt – Verdrängung wird eher geübt als Selbstbesinnung oder gar selbstkritische Auseinandersetzung.

evangelisch.de: Dann läutert so eine Weihnacht hinter Gittern gar nicht und zwingt zur Reue?

Anke Augustin: Weihnachten hinter Gittern schafft vordergründig den Entschluss, nie wieder in eine solche Situation zu kommen, da die Zeit schmerzhaft erlebt wird. Ich glaube aber nicht an die nachhaltige Wirkung einer Abschreckung. Die "Reue", die empfunden wird, bezieht sich nicht auf die Opfer der Straftaten, höchstens noch auf die mit betroffenen eigenen Angehörigen, meistens aber handelt es sich um Selbstmitleid.

evangelisch.de: Feiertage sind keine Besuchstage – warum eigentlich?

Anke Augustin: Auch JVA-Bedienstete möchten Weihnachten feiern. Auch sie haben Familien. Das Personal muss reduziert gefahren werden, so dass Sicherheitsauflagen für Außenkontakte nicht durchgeführt werden können. Deshalb gibt es keine Besuche in der Zeit.

evangelisch.de: Um welche Insassen müssen sie sich zu Weihnachten besonders kümmern und was bewegt die Männer?

Anke Augustin: Besonderes Augenmerk erhalten depressive Inhaftierte, die eventuell schon selbstverletzende Taten unternommen haben. Gefangenen, die als ängstlich, grüblerisch, selbst verschlossen und wenig selbstbewusst aufgefallen sind, werden verstärkt Gespräche oder auch mögliche Telefonate angeboten. Besonders geachtet wird auch auf Inhaftierte, die eine hohe Straferwartung haben, wie zum Beispiel bei einer Untersuchungshaft wegen einer Mordanklage. Die lange Zeit, in der sie über die Feiertage fast immer alleine eingeschlossen sind in ihre Hafträume, verstärkt die Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Manche Männer "ertrinken" in Selbstmitleid und Selbstanklage.

Süßigkeiten ja, CDs nein


evangelisch.de:
Welchen Wert haben Pakete und Briefe für die Insassen?

Anke Augustin: Pakete sind zuerst einmal willkommene Abwechslung in der Speisefolge: Süßigkeiten! Zudem enthalten die meisten den begehrten Tabak. Dann sind sie natürlich das Zeichen einer noch bestehenden, zur Hoffnung Anlass gebenden Verbundenheit mit Menschen draußen.

evangelisch.de: Wie viel Technik ist dabei erlaubt, sind Laptops gestattet?

Anke Augustin: Laptops oder Mp3-Player sind verboten, nicht mal gebrannte CDs! Das liegt an der Untersuchungshaft – Datenträger könnten leicht missbraucht oder manipuliert werden zur Verdunklung der angeklagten Straftaten. Dabei passiert jeder Schriftverkehr in der Untersuchungshaft die richterliche Briefzensur. Die Post von Strafgefangenen wird dann JVA-intern kontrolliert. Was aber erlaubt ist, sind klassische Bilder oder Fotografien – nur nicht digital.

evangelisch.de: Wie sieht ihr Programm aus an den drei Tagen – sehr seelsorgerisch?

Anke Augustin: Neben den Gottesdiensten und Gelegenheiten zu Telefonaten ist meine Arbeit ist in der Weihnachtszeit eher diakonisch geprägt: Ich kümmere mich um Pakete für Inhaftierte, die keine Angehörigen haben und um Inhaftierte, die auf eine Krise zu steuern. Die Bediensteten teilen mir sofort mit, wenn jemand auffällig reagiert. Seelsorge als Beratung und Begleitung findet in der "turbulenten" Weihnachtszeit nicht statt.

evangelisch.de: Und wie werden sie privat feiern?

Anke Augustin: Ich halte am Heiligen Abend nach dem JVA-Gottesdienst die Christvesper in einer Gemeinde, die Vakanzen hat. Danach feiere ich Zuhause mit meinem Partner, Tochter und einer Freundin. Ich setze mich an den gedeckten Tisch; es gibt Fasan und leckere Beilagen.


Stefan Becker ist freier Journalist und lebt in Innsbruck.