"Es war eine äußerst ernüchternde Erfahrung, am Hauptfesttag von Weihnachten gleichsam vor leeren Bankreihen zu predigen", erinnert sich Neuhaus. "Da war es auch kein Trost, dass der Besuch andernorts genauso bescheiden war."
Für den 58-jährigen Dekan des Dekanats Frankfurt Mitte-Ost ist es an der Zeit, über den ersten Weihnachtsfeiertag geistlich neu nachzudenken und beispielsweise von den orthodoxen Christen zu lernen. "Wir Protestanten haben den Heiligabend in den vergangenen Jahrzehnten mit Elementen wie Krippenspielen, Musik und Lesungen geradezu überfrachtet. Herausgekommen sind Großveranstaltungen, die sehr viel Vorbereitungszeit in Anspruch nehmen und "kaum noch handhabbar sind".
Die Leiterin des Zentrums Verkündigung der hessen-nassauischen Kirche, Sabine Bäuerle, hält nichts davon, über den rückläufigen Gottesdienstbesuch am ersten Feiertag zu jammern. Es gebe auch am Weihnachtsmorgen Veranstaltungen, die Hunderte von Gläubigen anlockten, etwa der Universitätsgottesdienst in der Mainzer Christuskirche. Im Übrigen müssten alle Gottesdienste, Andachten und Konzerte am Christfest als "Ensemble" gesehen werden - vor diesem Hintergrund sei die seit Jahren zunehmende Zahl der Gottesdienstbesucher am Heiligabend und auch am zweiten Feiertag eine "einzigartige Erfolgsgeschichte".
Katerstimmung am Weihnachtsmorgen
Die wachsende Beliebtheit der Heiligabend-Gottesdienste führt Bäuerle in erster Linie auf die "Faszination der Nacht als liturgische Zeit" zurück. "Viele Menschen seien am Abend 'innerlich stärker berührt' als an einem Wintermorgen". Dies ist auch für den Sprecher der hessen-nassauischen Kirche, Stephan Krebs, der eigentliche Grund für den deutlich schwächeren Besuch am ersten Weihnachtsfeiertag. "Am Abend sind die Menschen empfänglicher für geistliche Anregungen, am Weihnachtsmorgen macht sich Katerstimmung breit."
Als weiteren Grund für den schwachen Gottesdienstbesuch am ersten Feiertag führt Frithart Scholz, Dezernent für Gottesdienstpraxis der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, die Veränderungen im Alltag der Menschen an. "Der erste Feiertag ist in den vergangenen Jahrzehnten zum Tag der Familie geworden, an dem kaum noch Platz ist für einen Gottesdienst." Die Menschen nutzten die Zeit, um auszuschlafen, mit ihren Lieben zu essen und zu spielen und Verwandte zu besuchen.
Diese Einschätzung untermauert der Statistiker der kurhessischen Kirche, Frank Weide, mit Zahlen. Während 2008 jedes dritte der rund 900.000 Kirchenmitglieder einen der Gottesdienste am 24. Dezember besucht habe, hätten die Gottesdienste am ersten Weihnachtstag lediglich 32.446 Gäste angelockt. Auch in der hessen-nassauischen Kirche besuchen durchschnittlich rund ein Drittel der 1,8 Millionen Mitglieder einen Heiligabend-Gottesdienst. Dagegen werden hier die Gottesdienst-Teilnehmer am Tag danach nicht gezählt.