Weihnachtsverweigerer: "Klingeling ist nicht mein Ding"

Weihnachtsverweigerer: "Klingeling ist nicht mein Ding"
Bescherung, "O du fröhliche" und Lametta am Tannenbaum: Allein schon der Gedanke an ein kuscheliges Weihnachtsfest im Familienkreis löst bei manchen Menschen den Fluchtreflex aus. Ab in den Süden ist ihr erster Gedanke, der sie ins nächste Reisebüro treibt.
07.12.2009
Von Dieter Sell

Dem Rockmusiker Udo Lindenberg (63) fällt es leicht, über seine "Weihnachtsflucht" zu reden. "Klingeling unterm Weihnachtsbaum ist nicht mein Ding", sagt der Sänger, der seit Mitte der 1990er Jahre nicht nur an Weihnachten im Hotel "Atlantic" an der Hamburger Außenalster logiert. Anderen fällt es nicht so leicht, ihrer Familie mitzuteilen, dass sie das "Fest der Liebe" mitsamt Erwartungsdruck an Gemeinschaft und Harmonie leid sind. "Wer Weihnachten nicht feiern will, schert aus der Norm aus", weiß der Ehe- und Lebensberater Hartmut Ladwig.

Wenn da nicht das schlechte Gewissen wäre

"Advent, Basare und Weihnachtsmärkte zeigen, dass da eine besondere Zeit auf uns zukommt", sagt der Leiter der evangelischen Ehe- und Lebensberatung in Rotenburg bei Bremen. "Manche Ehefrau braucht dann schon eine gehörige Portion Courage, wenn sie ihrer Familie beibringen will: Dieses Jahr will ich Weihnachten nicht in der Küche stehen und lieber weg." Ladwig rät, offen über die eigenen Wünsche und das richtige Maß von Nähe und Distanz zum Fest zu sprechen, um Konflikte zu vermeiden.

Denn auch andersherum kann es zum Problem werden. Werbekauffrau Sophie H., 30, hat im vergangenen Jahr ihre Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass sie zu Weihnachten nicht kommen will. "Sie ist sofort in Tränen ausgebrochen. Ich musste ihr versprechen, pünktlich an Heiligabend zu erscheinen." Nun wechsele sich bei ihr die felsenfeste Entschlossenheit, nie wieder Weihnachten bei den Eltern zu verbringen, mit dem schlechten Gewissen ab, das sie bei diesem Gedanken bekomme.

Der Familie nicht zur Last fallen

Alleinstehenden wie der Bremer Klinik-Ärztin Antje Steiner fällt es leichter, dem Trubel zu entfliehen. "Andere haben Familie - ich arbeite oder versorge die Pferde im Stall", beschreibt die passionierte Reiterin ihr Programm am Heiligabend. "Ich schau' den Tieren dann beim Fressen zu, das ist ganz friedlich." Später besucht sie ihre Mutter. "Aber dann gibt es auch kein dickes, fettes Weihnachts-Menü", sagt die 42-Jährige.

Ein Herz gefasst hat sich die 72-jährige Ingrid Gross, die nach dem Tod ihres Lebenspartners unter Leute kommen will und über Weihnachten eine Bustour in den Spessart nach Bad Orb gebucht hat. Schon früher sei sie zu Weihnachten oft weggefahren, weil sie "nicht nur am Herd stehen wollte". Nun möchte sie der Familie nicht zur Last fallen. Doch "die Einsamkeit zu Weihnachten ist doch sehr erdrückend. Da hab' ich selbst die Initiative ergriffen, weil ich keinen Trübsal blasen will."

Festtags-Flüchtlinge mit Engeln im Koffer

Auch im Internet versammeln sich Gleichgesinnte, die es beim Gedanken an Festtags-Glitzer, Konsumrausch und glühweintrunkenen Weihnachtsmarkt-Horden schüttelt. "In diesem Jahr ist mir nicht nach Familienweihnacht, Tantenbesuch und Verwandtschaftsstress", bloggt eine 33-jährige "Backpackerseele" auf der Suche nach einem Mitreisenden. Sie möchte gerne in die Türkei - "ohne Teppichverkaufsfahrt und Schmuckfabrik".

Bei den Fernreisen sind über Weihnachten Florida, Indischer Ozean, Mexiko, die Karibik und Asien mit Thailand und Bali gefragt, registriert der Deutsche Reiseverband. Auf der Mittelstrecke sind es Nordafrika und die Kanaren. Aber auch Schneeziele verzeichnen gute Buchungszahlen. Nach den Erfahrungen von Hartmut Ladwig verraten aber Kleinigkeiten im Koffer, dass sich viele Festtags-Flüchtlinge innerlich doch nicht ganz von Weihnachten verabschieden mögen: "Beispielsweise, wenn ein Engel oder ein paar Geschenke eingepackt werden."

epd