Für das Priestertum aller Gläubigen gibt es in Deutschland unter anderem die Handy-Durchwahl 1414, wahlweise kann auch die E-Mail-Adresse 1414@bild.de genutzt werden. Menschen laden hier jene Bytes ab, von denen sie glauben, dass andere sie zur Kenntnis nehmen sollten – Fotos und Filmchen von explodierenden Autowerkstätten, entgleisten Güterzügen und ertappten Prominenten zum Beispiel. Mit etwas Glück wandert der usergenerated content sogar in die Printausgabe von Europas größter Zeitung - der "Bild". Daran ist nichts mehr überraschend. Von Boulevard- bis Qualitätsjournaille, von Print bis Glotze, aber vor allem im Internet bekommt der knipsende, filmende, schreibende, die Welt deutende und erklärende Laie Bühnen aufgebaut, die er willig besteigt. Ohne Ausbildung, ohne Auftrag, ohne Allüren. Das ist sehr, sehr ärgerlich – vor allem für uns, die gut ausgebildeten, sorgfältig arbeitenden und ethisch reflektierenden Profi-Journalisten.
Das geringste Übel ist für uns noch der Boulevard-Amateur, der seine wackeligen Unfall-Videos verscherbelt oder – noch blöder – kostenlos auf Youtube zur Verfügung stellt. Soll er doch sein Glück mit dem Unglück anderer machen! Er bleibt nur eine Eintags-Fliege im Medienzoo. Viel schlimmer aber sind die Makro- und Mikro-Blogger jeder Couleur und Fachrichtung, die Wikipedisten, die citizen journalists, die Feierabend-Essayisten, die ganze Web2.0-Bohème und ihre idealistischen Mitmach-Experten – eigentlich: alle, die ungefragt das Maul aufmachen. Honorarfrei. Und die sich nicht wirklich um die Aufmerksamkeit der Gatekeeper, der echten Journalisten, bemühen müssen, deren wichtigste Quelle sie längst schon geworden sind.
Google statt General-Anzeiger
Hinzu kommt noch ein anderes, noch größeres Übel: Wenn auch der letzte Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer erst mal verstanden hat, wie er sich im Internet mit wenigen Klicks und Suchanfragen ein Thema erschließen oder seine Nachrichten zusammenstellen kann, wird das mindestens die Hälfte aller Journalisten-Jobs kosten: Google statt General-Anzeiger, atomisierte Info-Häppchen statt informativer Analyse. "All the news that's fit to print" ist nicht mehr – plötzlich wollen die doofen Leser selbst entscheiden, was "fit" ist. Gleichzeitig werden von ignoranter Verlagsseite Profi- und Laien-Beiträge zum Content-Brei verrührt, der beliebig oft kombiniert, ausgetauscht und in anzeigenaffine Formen gegossen werden kann.
Es ist also alles ganz schlimm – für uns, die Journalisten. Warum glauben immer mehr Menschen, ohne uns auskommen zu können? Woher diese Antipathie? Vielleicht hilft eine Werbekampagne in eigener Sache, vielleicht in dieser Art: "Journalisten wissen, was wirklich relevant ist!" Das heißt: All das, was sich zum Beispiel die Kollegen aus der Pressestelle von Greenpeace ausdenken. Oder die Spindoktoren der Parteien. Im Zweifel alles, was die anderen Journalisten auch für relevant halten.
- "Journalisten haben das Recherchieren gelernt!" Aber sie brauchen es nicht mehr so häufig, weil sie immer öfter gut geschriebene Pressemitteilungen zur Verfügung gestellt bekommen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die viel gescholtenen PR-Kollegen!
- "Journalisten wissen, wie sie komplizierte Sachverhalte anschaulich machen können!" Und das geht so: Wir nehmen Menschen – damit funktioniert's. Unbedeutende Menschen für die Sozial- oder Milieu-Reportage; wichtige oder schöne für Personality- und Skandal-Geschichten. Für abstrakte Themen fragen wir die Bekannten von Bekannten: Hast du jemanden für eine Abwrackprämien-Geschichte? Für Talkshows werden dann alle drei Gruppen gemischt.
- Nicht überzeugend? Okay, dann eben so: "Journalisten sind fair und objektiv und halten sich an die Wahrheit!" Und zwar immer, außer in den wenigen Fällen, in denen Fairness nicht opportun, Objektivität gefährlich und die Wahrheit langweilig ist. Hat doch der "rasende Reporter" (Egon Erwin Kisch) auch schon so gemacht.
- Also gut: "Journalisten haben ethische Grundsätze.“ Aber die müssen natürlich finanziert werden von euch Normalsterblichen! Damit sind jetzt nicht die über 1000 popeligen Journalistenrabatte gemeint, mit denen sich die armen freien Journalisten (und die meisten festangestellten) das Leben schönrechnen, der kostenlose Museumsbesuch, die reduzierten Theaterkarten, die BahnCard50 zum halben Preis und so weiter. Alles Peanuts. Nein, ethische Grundsätze und berufliche Verdienste (von Journalisten) müssen von der Gesellschaft belohnt werden und zwar mit Ehrengaben. Gott sei Dank gibt es jedes Jahr mehr davon – so lässt sich die Krise des Journalismus etwas abfedern.
Es wird wohl schlimmer
Langfristig hilft das alles nichts: Es wird wohl noch schlimmer für die Journalisten. So schlimm etwa, wie es mal für die Kleriker gewesen sein muss, als die Laien anfingen, von Gott zu reden. Ohne heilige Weihen – einfach so. Was damals zu Reformationszeiten der Buchdruck war, ist heute die Möglichkeit von Lieschen Müller, online eine Weltöffentlichkeit zu erreichen. Und Lieschen Müller versucht es tatsächlich. Sie wagt es, der Welt die Welt zu erklären.
Aber es gibt Hoffnung für die Journalisten. Erstens: In der Regel ändern solche Laienbewegungen nichts an dem Bedürfnis der Mehrheit, sich doch wieder Autoritäten unterzuordnen. Im Zweifel vertraut die Gesellschaft lieber den geweihten Wahrheitsvermittlern.
Und zweitens: Trotz Heimwerker-Markt verdienen Handwerker doch noch sehr ordentlich, trotz Koch-Kult gehen die Menschen ins Restaurant, trotz "Priestertum aller Gläubigen" lassen sich auch Protestanten von ausgebildeten Theologen zur Buße rufen. Okay, vielleicht werden die Kunden insgesamt etwas kritischer. Als 1414 (nicht die "Bild-Leserreporter"-Nummer, sondern das Jahr!) der Reformator Jan Hus in Konstanz vors Konzil trat, wollte er nicht die Profis abschaffen; er wollte, dass sie besser würden, denn die predigten "wohl gegen unsere Unzucht und unsere Laster, aber von den ihrigen sagen sie nichts. Also ist entweder keine Sünde, oder sie wollen das Privilegium haben". Aber das waren andere Zeiten.
Axel Reimann ist freier Journalist und lebt in Hamburg. Sein Handwerk lernte er unter anderem an der Henri-Nannen-Schule (1997-1999). Von 2000 bis 2005 war er Ressortleiter beim evangelischen Monatsmagazin "chrismon".