"Wenn ich groß bin": Neun Jahre mit der Kamera dabei

"Wenn ich groß bin": Neun Jahre mit der Kamera dabei
Ein schwedischer Filmemacher filmt Schulklassen vom ersten bis zum letzten Schultag. Neun Jahre lang ist die Kamera dabei - heraus kommen Dokumentationen, die schöner nicht sein könnte. Sie zeigen nicht nur das Leben der Kinder und ihrer Eltern, sondern dokumentieren einfühlsam auch die sozialen Veränderungen im Ort. Sechs Klassen hat Filmer Rainer Hartleb so begleitet, über 30 Jahre dokumentiert. Sein aktuelles Werk heißt "Wenn ich groß bin".
28.10.2009
Von Thomas Borchert

Gesichter erzählen viele Geschichten, gewollt und nicht gewollt, deshalb werden wir nie müde, sie zu betrachten. Bei Rainer Hartleb steigert sich die Faszination bis an die Grenze zur Suchtgefahr: Der schwedische Dokumentarfilmer mit deutschem Geburtsschein hat mit der Kamera - nicht zum ersten Mal - eine Schulklasse über neun Jahre vom ersten bis zum letzten Schultag begleitet, die Jungen und Mädchen vom 8. bis zum 17. Geburtstag immer wieder zu ihrem Leben befragt - und daraus den Kino-Film "Wenn ich groß bin" ("När jag blir stor") gemacht: Spannender als der spannendste Schweden-Krimi.

Zum Beispiel Tolga. Er besucht nach dem Schulabschluss seine Ex-Lehrerin und erinnert sich als ernster, vernünftiger und ein bisschen verschlossener junger Mann, wie er zehn Jahre vorher beim ersten Schultag die Klasse betreten und der auch zehn Jahre jüngeren Lehrerin die Hand gegeben hat. Schnitt: Wie in einer Zeitmaschine können wir sehen, was Tolga und die Lehrerin als Erinnerung austauschen. Der geduldige Chronist Hartleb hat sie ja auch am ersten Schultag gefilmt. Da war Tolga noch ein kleiner, ständig kichernder Verrückter, der mit seinem besten Freund Daniel um die Wette albert.

Erzählung mit großer Ruhe

Daniel, Sohn bosnischer Flüchtlinge, ist auch zur Ex-Lehrerin mitgekommen und spricht davon, wie er in der ersten Klasse der dicke Moppel war. Schnitt: Wir sehen Daniel in der ersten Klasse. Klar ist er ein bisschen rund, aber daran denkt man nur, weil es für ihn in der Erinnerung so wichtig geblieben ist. Viel spannender sind die Betrachtungen des Flüchtlingskindes über die Frage, ob denn nun das Land der Eltern oder Schweden seine eigentliche Heimat sind.

Und dann die wortlose, leicht irre Hingabe der siebenjährigen Tolga und Daniel in der Klassen-Disco. Über die sie sich als kontrollierte, vernünftige Heranwachsende ein Jahrzehnt später ihre Gedanken machen. Hartleb lässt die zehn Mädchen und Jungen samt Eltern mit großer Ruhe von ihrem Leben erzählen. Die meisten von ihnen Zuwanderer, gelandet in einem völlig unscheinbaren Städtchen vor den Toren Stockholms. Die Kinder, aus den unterwegs im Film Jugendliche geworden sind, erzählen offen und ernst, wie es ist in Jordbro, wovon sie für die Zukunft träumen, und wie sie zurückblicken auf das Vergangene.

Filmpreis für alle Sparten

"Der Dramaturg bei meinen Filmen ist die Zeit", hat Hartleb mal gesagt und macht sich Gedanken, warum seine Filme so starke Wehmut und zugleich Lebensmut ausstrahlen: "Vielleicht spürt man stärker als sonst, dass jeder Augenblick unwiederbringlich ist." Seine Jordbro-Filme sind ein Begriff in Schweden: Die erste Serie hat Hartleb mit einer Schulklasse 1972 gestartet und nach alles in allem sechs Filmen und über 30 Jahren 2006 abgeschlossen. Da näherten sich die einstigen Erstklässer dem 40. Geburtstag, gaben weiter Auskunft über ihre Leben - und man konnte hier wahrhaft tiefe, manchmal auch harte Spuren in den Gesichtern lesen.

Die Jordbro-Filme laufen in den Kinos, werden im Fernsehen gezeigt und haben dem Autor Schwedens Filmpreis "Guldbagge" eingebracht. Den ganz großen, für den besten Film in allen Sparten. Hartleb wurde im Schaltjahr 1944 am 29. Februar im thüringischen Schreiberau geboren, wuchs in Berlin auf und kam 1952 nach Stockholm, als sein Stiefvater, der Kapellmeister Hans Busch, in "Berns Salonger" hier angeheuert hatte.

"Kämpfen, kämpfen, kämpfen"

Für die Schweden ist Hartleb einfach Schwede und bekennt sich selbst zum skandinavischen Wohlfahrts-Modell als persönlicher Wurzel. Zu diesem Modell gehört - nach wie vor und unangefochten - die Gesamtschule über neun Schuljahre. Im unscheinbaren Jordbro wurde sie in den 70er Jahren vielleicht zur Hälfte von "Gastarbeiter"-Kindern aus Ländern wie Griechenland und Jugoslawien bevölkert. Im neuen Film ist der Zuwanderer-Anteil gewachsen, die Eltern kommen jetzt aus Gambia, Somalia, Algerien und Bosnien.

Für die Kinder dieser Familien ist der Kampf um gute Zensuren und damit eine berufliche Zukunft ein riesiger Berg auf ihrem Weg ins Erwachsensein. "Du musst kämpfen, kämpfen, kämpfen", sagt der bosnische Vater beim Elterngespräch zu Narcisa, und sein durch und durch unruhiges Gesicht macht klar, wie ernst er es meint. Warum, ahnen wir beim Besuch mit der Familie und Hartlebs Kamera in ihrer zerstörten bosnischen Heimat.

Alle kämpfen um ihren Weg

Das Paket, das Eltern ihren Kindern aufladen, gehört zu den immer wiederkehrenden Jordbro-Geschichten. Emilie kam zur Welt, als die Mutter 17 war, und die kann sich auch viel später einfach nicht für einen Mann entscheiden. Ein Bruder wird tot geboren, Emilie trägt schwer daran. Sie sieht ihrer Mutter als 13-14-Jährige noch viel ähnlicher als bei der Einschulung. Aber sie findet ihren eigenen Weg: Der Film zeigt Emilie als Cheerleader in der Sporthalle, mit bedingungsloser Hingabe, meist fröhlich und auch mal verzweifelt, immer gemeinsam mit ihren Freundinnen.

Ein typisches Hartleb-Beispiel dafür, wie alle strampeln und um ihren Weg kämpfen. Und im Übrigen auch lustig anzusehen mit der Hysterie der Teens, die sich schon ein bisschen sexy herrichten, tanzen wie ausgewachsene Go-Go-Girls und doch noch kleine Kinder sind.

Atemberaubende Kulturbrüche

Sieben von zehn der Jordbro-Kinder in diesem Film kommen aus Zuwandererfamilien mit zum Teil atemberaubenden Kulturbrüchen, die die Kinder auszuhalten haben. Hartleb liefert auch eine wichtige Momentaufnahme von gesellschaftlichen Veränderungen in Jordbro über die letzten dreieinhalb Jahrzehnte. Aber damals wie jetzt: Hartlebs Interesse gilt vor allem und ungeteilt dem einzelnen Mädchen und dem einzelnen Jungen.

Warum gibt Tolga seinen Traum vom Profifußball auf? Warum macht Charoula so ein trauriges Gesicht, wenn sie sagt, dass das Leben eigentlich sehr gut ist? War Niclas wirklich mal in Emilie verliebt? "Ich weiß nicht so viel über mich selbst" sagt er. Wir sehen ihn als kleinen Knaben im klirrend kalten schwedischen Winter jubelnd und kreischend einem neuen Schultag in der Schule entgegenrennen. Mit 13 oder 14 ist er ernst und nachdenklich. Später reflektiert er darüber, wie es mit der Zeit immer schwerer und hoffnungsloser wurde, das Versäumte in der Schule aufzuholen. Dann will er eben Elektriker werden. Oder Jugendliche betreuen oder irgendwas mit Computern.

Auch die Eltern kommen zu Wort

Niclas' bester Freund ist Jocke. Daniel und Tolga sind auch ein Freundespaar, und Narcisa freut sich darüber, dass sie und ihre beste Freundin Charoula einander immer so gut und genau zuhören. Ja, so ist das, Kinder haben Freunde, gut so, denkt man. Hier, mit den begeisterten oder auch ernsten Gesichtern, die davon vor der Kamera erzählen, oft mit schweren Familiengeschichten als Hintergrund, nimmt Hartleb den Betrachter sanft und ohne jeden eigenen Kommentar an die Hand: Ein bisschen mehr Einfühlung kann nie schaden, oder?

Wenn die Eltern zu Wort kommen, scheint immer wieder durch, wie sie ihren Kindern unbewältigte eigene Lasten aufbürden. Aber auch sie kämpfen ja um den richtigen Weg. Da ist Anas' algerischer Vater, der in Schweden 1995 wegen Terrorverdachts zwei Monate in Untersuchungshaft saß und als "mutmaßlicher Mörder" durch die Medien ging. Der Verdacht wurde irgendwann fallengelassen.

Kleine Bilder von großer Kraft

Anas muss zwei oder drei gewesen sein, als die Antiterrorpolizei die elterliche Wohnung stürmte und den Vater mitnahm. Jetzt ist er ein sehr ernst wirkender junger Mann, der Anwalt werden will. Seine Mutter, mit Kopftuch, macht sich auf den Weg zu einem Besuch in die nordafrikanische Heimat und zeigt lächelnd ihr schönstes Geschenk vor: Eine Pippi-Langstrumpf-Puppe.

Hartleb, hat viele solcher Bilder gesammelt, die klein und unscheinbar daherkommen und doch manchmal Kraft in Shakespeareschen Dimensionen entfalten. Saras Mutter, mit 17 Jahren allein aus Somalia nach Schweden gekommen, hat vier Kinder. Ihre Älteste macht einen Schulmarathonlauf mit. Wir sehen, wie die Mutter am Zieleinlauf steht. Sie ist zum Gratulieren gekommen, umarmt die erschöpfte Sara, muss aber schnell wieder weg zur Arbeit.

Unendlich weite Dimensionen

Am letzten Schultag bei der Abschlussfeier wird Sara als beste Schülerin ihres Jahrgangs ausgezeichnet. Die Mutter weint, umarmt ihre Tochter stolz. Und muss wieder ganz schnell wieder zu ihrer Arbeit. Wir wissen nicht, was für eine Arbeit das ist. Wenn die Mutter in Richtung Zentrum des unscheinbaren schwedischen Kleinstädtchens zu einem vermutlich unscheinbaren Job aus dem Bild verschwindet, hat Jordbro dank Hartlebs Kamera, Mikrofon und Schneidetisch unendlich weite Dimensionen.

Fragt man den Filmautor genauso nach seiner Vorstellung vom Glück, wie er das in den Jordbro-Filmen unsichtbar mit sanfter Stimme aus dem Hintergrund auch tut, kommt eine Mail von der Ostsee zurück: "Die Sonne scheint noch über Gotland, doch die Nächte sind schon kalt. Gestern plumpste ich in das herrliche Wasser und holte mir hinterher eine Hand voll Pfifferlinge im nahen Strandwald zu meinem Abendbrot."

dpa