Karadzic-Prozess: "Opfer wollen, dass ihr Leid anerkannt wird"

Karadzic-Prozess: "Opfer wollen, dass ihr Leid anerkannt wird"
Vorm UN-Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien berichten Zeugen, was sie im Jugoslawienkrieg erlebt haben - so wird es auch im jetzt gestarteten Prozess gegen Radovan Karadzic sein. Die Sozialarbeiterin Judith Brand kennt solche Zeugen. Seit vier Jahren ist die Deutsche im Auftrag des UN-Tribunals als Zeugenbetreuerin in Bosnien-Herzegovina tätig. Was die Zeugen bewegt und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, berichtet sie im Interview.
27.10.2009
Die Fragen stellte Bettina Göbner

Frage: Frau Brand, wer sagt vor dem Strafgerichtshof aus?

Judith Brand: Neben Experten, Politikern, Polizisten und Armeeangehörigen vor allem Menschen, die im Krieg oft engste Angehörige verloren haben. Sie laufen nicht vor der Vergangenheit davon, sondern bringen die Kraft auf, vor Gericht von ihren Erlebnissen zu erzählen. Eine alte Frau zum Beispiel hätte nach dem Krieg mit ihren beiden Töchtern auswandern können. Aber sie ist geblieben, ganz allein, obwohl sie als Flüchtling in einer Sammelunterkunft leben musste. Sie hatte ihren vermissten Sohn noch nicht gefunden. Inzwischen weiß sie, was mit ihm geschehen ist, seine sterblichen Überreste wurden exhumiert, sie konnte ihn beerdigen. In Den Haag hat sie über sein Verschwinden ausgesagt.

Frage: Wie genau sieht Ihre Arbeit mit den Zeugen aus?

Brand: Wir sind Ansprechpartner für alles, was nicht direkt mit der Aussage im juristischen Sinne zusammenhängt. Wir organisieren beispielsweise die Reise nach Den Haag, aber unsere wichtigste Aufgabe ist, offen zu sein für die Fragen und Unsicherheiten der Zeugen. Die Aussage soll mit möglichst wenig Stress und Belastung verbunden sein. Viele haben noch nie vor einem Gericht ausgesagt, manche waren noch nie im Ausland. Anderen Zeugen helfen wir, jemanden zu finden, der ihre Kinder betreut oder ­ihren Hof bewirtschaftet, während sie nach Den Haag reisen.

Aussage für die Anerkennung des Leids


Frage:
Und nach der Verhandlung?

Brand: Wir rufen alle Zeugen an, um zu klären, ob sie uns noch brauchen. Manchmal vermitteln wir Unterstützung in rechtlichen Fragen oder psychologische Hilfe. Oft geht es darum, nur zuzuhören.

Frage: Warum sagen die Zeugen vor dem Strafgerichtshof aus?

Brand: Manche tun es für die Menschen, die im Krieg gestorben sind. Ein Zeuge erzählte mir, er sei der einzige Überlebende einer Massenerschießung. Er müsse für die anderen aussagen, weil sie es nicht mehr könnten - die Welt müsse erfahren, was passiert sei. Andere wollen vom Gericht die Bestätigung: "Ja, was du erlebt hast, was man deiner Familie angetan hat, war Unrecht." Sie wollen, dass ihr Leid anerkannt wird. Es wird dadurch nicht weniger schrecklich, aber sie fühlen sich ernst genommen.

Frage: Die Zeugen nehmen eine große Verantwortung auf sich.

Brand: Viele empfinden es als ihre Pflicht auszusagen. Sie haben etwas gesehen oder erlebt und sind bereit, mit ihrer Aussage dazu beizutragen, Kriegsverbrechen aufzuklären. Die Opfer wollen nicht, dass Kriegsverbrecher unbehelligt weiterleben können.

Frage: Geht es um Gerechtigkeit?

Brand: Es geht den meisten darum, dass Verbrecher nicht einfach ohne Strafe davonkommen. Was die Menschen erlebt haben, kann ­niemand wiedergutmachen, und niemand kann ihnen ihre toten Angehörigen und Freunde zurückgeben. Aber es hilft ihnen, wenn ein Gericht offiziell bestätigt, dass Unrecht geschehen ist.

Straffreiheit schwer nachzuvollziehen


Frage:
Empfinden die Zeugen die Strafen als gerecht?

Brand: Gerechtigkeit ist etwas sehr Subjektives. Manche Zeugen sagen: "Für das, was mir und meiner Familie geschehen ist, ist keine Strafe hoch genug, keine Sühne ausreichend." Manchmal werden Angeklagte freigesprochen, obwohl klar ist, dass es ein Verbrechen gab; man kann ihnen aber keine Verantwortung dafür nachweisen. Das ist für die Opfer sehr schwer nachzuvollziehen: Es gibt ein Verbrechen, aber niemand wird dafür bestraft.

Frage: Gibt es Zeugen, die ihre Kriegserlebnisse verdrängt haben?

Brand: Für manche sind die Erlebnisse ständig präsent, andere versuchen, sich möglichst wenig daran zu erinnern. Durch die Aussage haben einige das Gefühl, die Situation noch einmal zu durch­leben; sie leiden unter Alpträumen oder Depressionen. Dann versuchen wir, psychologische Unterstützung zu vermitteln. Einmal hat eine Frau angerufen und geklagt, sie könne nachts nicht mehr schlafen und traue sich nicht mehr nach draußen; sie habe Angst, verfolgt zu werden.

Frage: Sind solche Ängste berechtigt?

Brand: Meistens ist es ein diffuses Gefühl der Angst, das Zeugen zu schaffen macht. Zu Drohanrufen oder -briefen kommt es eher selten. Wenn Zeugen begründete Sorgen haben, kann das Gericht sie auch dadurch schützen, dass ihre Identität nicht öffentlich gemacht wird. Die meisten sagen aber offen aus, mit der Begründung: "Ich sage ja nur die Wahrheit." Manche Zeugen haben Angst, dass sie hinterher von Nachbarn und Freunden schief angeschaut werden. Manchmal passiert das leider auch, da werden Zeugen auf der Straße nicht mehr gegrüßt, oder man ruft ihnen Schimpfwörter nach. Einige geraten auch in der Familie unter Druck, die Angehörigen fragen dann: "Warum musst das aus­gerechnet du machen, kann nicht jemand anders aussagen?"

"Zeugen nehmen Verpflichtung zur Wahrheit sehr ernst"


Frage:
Der Film "Sturm" (der vor dem Hintergrund der Prozesse in Den Haag eine fiktive Geschichte erzählt) geht davon aus, dass es eine regelrechte Mafia aus Kriegsverbrechern gibt.

Brand: Davon weiß ich nichts. Wenn aber Zeugen gefährdet sind, ver­anlasst das Tribunal entsprechende Schutzmaßnahmen. Die meisten haben jedoch keine gravierenden Sicherheitsprobleme.

Frage: Haben Sie erlebt, dass Zeugen lügen?

Brand: Die Zeugen, mit denen ich zu tun hatte, nehmen ihre Verpflichtung zur Wahrheit sehr ernst und machen sich Sorgen, dass sie vielleicht ein Detail vergessen haben könnten. Eine bewusste Falschaussage könnte als Missachtung des Gerichts verfolgt werden. Bislang gab es keine Fälle wegen Falschaussagen, sondern wegen Aussageverweigerung oder weil Zeugen nicht vor Gericht erscheinen wollten. Aber das sind absolute Ausnahmen.

Frage: Gibt es Zeugen, die ihre Aussage bereut haben?

Brand: Ich habe schon mit Hunderten von Zeugen gearbeitet, und es gab nur eine Handvoll, die wünschten, sie hätten nicht ausgesagt. Ein Mann hatte sich als Zeuge zur Verfügung gestellt und musste dann mehrmals nach Den Haag vor das Gericht. Er meinte: "Hätte ich doch erst gar nichts gesagt, dann wären mir die ganzen Reisen erspart geblieben!"

Nicht alle möchten Aufarbeitung


Frage:
Sind die Zeugen nach der Aussage erleichtert?

Brand: Die meisten. Viele gehen mit gestärktem Selbstbewusstsein aus der Verhandlung. Manche rufen uns an und bedanken sich, dass jemand ihnen zugehört und ihre Ängste ernst genommen hat.

Frage: Sie leben seit vier Jahren in Sarajevo. Haben Sie den Eindruck, dass die Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien bereit ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen?

Brand: Vor allem die Betroffenen möchten, dass der Krieg aufgearbeitet wird und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Manche Menschen sind aber auch der Meinung, man müsse jetzt in die Zukunft schauen. Es ist schwer, eine Balance zu finden.

Frage: Die Staatenbildung in Exjugoslawien ist fragil - ist es nicht gefährlich, wenn das Tribunal alte Wunden aufreißt?

Brand: Meiner Meinung nach gibt es keine Alternative. Man kann keinen demokratischen Rechtsstaat aufbauen, wenn schwerste Verbrechen - darum geht es ja beim Tribunal - nicht verfolgt werden und mutmaßliche Kriegsverbrecher möglicherweise hohe politische Ämter bekleiden.

"Ich bin beeindruckt, wie stark diese Menschen sind"


Frage:
Wie funktioniert das Zusammenleben zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen heute?

Brand: Das ist unterschiedlich. Natürlich gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrungen im Krieg mit den anderen Bevölkerungsgruppen nichts mehr zu tun haben wollen. Es gibt aber auch viele, die sagen, es waren ja nicht alle Serben oder Kroaten oder Muslime, die uns etwas angetan haben, sondern nur einzelne Menschen. Sie verstehen sich mit ihrem Nachbarn, auch wenn er zu einer anderen ethnischen Gruppe gehört - sie sehen ihn als Menschen. Und sie erziehen auch ihre Kinder so: Sie sollen in der Schule nicht auf den Glauben oder auf den Vornamen eines anderen ­Kindes achten, sondern darauf, was er Gutes an sich hat. Oft sehen das gerade Menschen so, die im Krieg Schlimmes erlebt haben.

Frage: Wie kommen Sie mit den Geschichten der Zeugen zurecht?

Brand: Natürlich bleiben die Geschichten abends nicht im Büro zurück, sie beschäftigen mich. Aber meistens komme ich gut damit zurecht, weil ich sehe, dass viele Menschen einen guten Weg ge­funden haben, mit der Vergangenheit umzugehen. Sie können wieder nach vorne schauen. Ich bin beeindruckt, wie stark diese Menschen sind. Es geht mir aber manchmal sehr nahe, wenn ich sehe, dass manche heute immer noch in einer hoffnungslosen Lage leben. Zum Beispiel die alte Frau, die ihren toten Sohn finden wollte und auch gefunden hat: Sie lebt immer noch in einer ­Sammelunterkunft, in der es feucht und kalt ist und hereinregnet, ohne Angehörige und ohne eine Beschäftigung. Es ist schwer auszuhalten, dass ich in so einem Fall nichts tun kann.


Stichwort: Das Jugoslawien-Tribunal

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag wurde 1993 vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet. Vor dem Tribunal müssen sich Menschen verantworten, die seit 1991 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens Verbrechen begangen haben: Verletzungen der Genfer Konventionen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 161 Verdächtige wurden angeklagt, darunter der ehemalige ­Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic (er starb vor dem Urteil), Milan Martic, der für Mord und Folter an Nicht-Serben zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, der mutmaßliche serbische Kriegsverbrecher Radovan Karadzic sowie Ratko Mladic, der sich für das Massaker in Srebrenica verantworten muss und noch gesucht wird. Seit 2004 wurden keine neuen Anklagen erhoben.Wenn die offenen Verfahren abgeschlossen sind, soll der ­Gerichtshof seine Arbeit einstellen. Bis Ende 2010 sind das ­Mandat und die Finanzierung gesichert.

 

Foto: Norbert Rütsche


Das Interview ist zuerst in dem evangelischen Magazin "chrismon plus" erschienen.