"Alle, die kommen, sollen sich angesprochen fühlen"

"Alle, die kommen, sollen sich angesprochen fühlen"
Wie können evangelische Gottesdienste attraktiver gestaltet werden? Eine neue EKD-Orientierungshilfe gibt Hinweise, wie die Zahl der sonntäglichen Kirchgänger erhöht werden kann.
12.10.2009
Von Bernd Buchner

Knapp eine Million Menschen besuchen regelmäßig die evangelischen Sonntagsgottesdienste in Deutschland - das sind weniger als vier Prozent aller Protestanten. Der traditionelle Kirchgang ist einem "punktuellen Gottesdienstbesuch zu bestimmten Anlässen" gewichen, stellt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) fest und will deshalb die sonntäglichen Feiern attraktiver und einladender gestalten. "Alle, die kommen, sollen sich angesprochen fühlen", heißt es in einer am Montag in Berlin vorgestellten EKD-Studie. Wie aber spricht man Menschen so an, dass sie am nächsten Sonntag wiederkommen?

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Die Überlegungen der fast 100-seitigen Orientierungshilfe, die der scheidende EKD-Ratschef Bischof Wolfgang Huber der Öffentlichkeit präsentierte, stehen in der Tradition der reformatorischen Erneuerung des Gottesdienstes. Luther, Calvin und Zwingli lehnten das spätmittelalterliche Verständnis der Messe als Sühnehandlung ab und stellten die Verkündigung der frohen Botschaft ins Zentrum der Feier, mithin die rechte Auslegung des Evangeliums in der Predigt. Die "Kirche des Wortes" mahnte zu einer Rückbesinnung auf die Heilige Schrift, die Kanzel wurde in den Gotteshäusern der reformatorischen Kirchen auch architektonisch hervorgehoben.

"Beflügelnde und klärende Wirkung"

Doch eine donnernde Predigt allein bringt in Zeiten der Säkularisierung und gesellschaftlichen Individualisierung noch keine vollen Kirchen. Dass die sonntägliche Feier nicht mehr die angemessene Resonanz findet, müssen die Kirchen bereits seit geraumer Zeit feststellen. Man wolle sich allerdings nicht damit abfinden, schreibt Huber im Vorwort der Studie. "Nichts ist für eine Kirche belastender, als wenn über ihre Gottesdienste abschätzig geredet wird", so der Berliner Bischof - "und nichts weckt mehr Freude und Dankbarkeit, als wenn Gottesdienste eine ausstrahlende und aufbauende, eine beflügelnde und klärende Wirkung entfalten."

In dem Text wird folglich verlangt, von den Qualitätsansprüchen an einen Gottesdienst dürften keine Abstriche gemacht werden. Das betreffe Sprache, Bewegungen, Musik, Kleidung und Kultgeräte ebenso wie Inhalte. Lieber "schlicht und gut" als "aufwändig und gut gemeint", lautet der Ratschlag - hier lässt sich im Calvin-Gedenkjahr ein Lob für den oft als karg empfundenen reformierten Gottesdienst herauslesen. Doch unvermindert aktuell ist den Verfassern zufolge auch die Aufgabe, überlieferte Liturgie mit überzeugenden neuen Formen von Gottesdienst zu verbinden. Betont wird auch die Rolle der Musik, die in der evangelischen Kirche traditionell eine große Bedeutung hat.

Kirchenferne Menschen suchen Rituale

"Kinder sind willkommen", lautet eine weitere Empfehlung des Papiers, das von einer EKD-Arbeitsgruppe unter Leitung des Münsteraner Theologen Michael Beintker vorbereitet wurde. Ohne sie seien die sonntäglichen Feiern "gewiss ruhiger. Doch lebendiger und zugleich dem Evangelium näher sind sie mit ihnen." Eine besondere Bedeutung misst die Studie Gottesdiensten zu biografischen Anlässen wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung bei. Denn gerade kirchenferne Menschen suchten diese "lebensbegleitenden Rituale".

Für den laufenden EKD-Reformprozess komme dem Umgang mit dem Gottesdienst eine zentrale Bedeutung zu, unterstrich Ratschef Huber. Dies habe sich gerade bei der Zukunftswerkstatt vor zwei Wochen in Kassel gezeigt. Im Impulspapier "Kirche der Freiheit" hatte die EKD das Ziel formuliert, die Gottesdienstbeteiligung zu stärken und ein entsprechendes Qualitätsbewusstsein zu stärken. Als besonders wichtige Aufgabenfelder wurden zum einen Liturgie und Kirchenmusik und zum anderen die Predigt herausgehoben. Eigene Kompetenzzentren in Hildesheim und Wittenberg sollen das unterstreichen. Auch die Medien nehmen sich des Themas an: Im evangelischen Magazin "chrismon plus" etwa läuft seit geraumer Zeit eine Serie mit sogenannten Gottesdienstkritiken.

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Die Orientierungshilfe zum Gottesdienst, die sich dem Vernehmen nach hauptsächlich an Pfarrer, Lektoren, Kirchenmusiker und Kirchenvorstände richtet, schließt einen Kreis von Papieren ab, in denen die EKD zu zentralen Fragen des Glaubens und des kirchlichen Lebens Stellung bezieht. Texte zu den beiden evangelischen Sakramenten Taufe und Abendmahl waren 2003 und 2008 erschienen. Huber, dessen Nachfolger in zwei Wochen gewählt wird, wäre wohl nicht unfroh, wenn man diese drei Grundsatzdokumente - neben dem Reformprozess - zu seinem Vermächtnis rechnen würde.

"Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche". Gütersloher Verlagshaus, 96 Seiten, 4,95 Euro (ISBN-Nummer: 978-3-579-05910-5). Die Studie kann im Volltext heruntergeladen werden. Das Buch kann auch bestellt werden beim Kirchenamt der EKD, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Telefon (05 11) 2 79 64 60, E-Mail: versand@ekd.de.

mit Material von epd