Piraten nach der Wahl: Taktgeber oder Geisterschiff?

Piraten nach der Wahl: Taktgeber oder Geisterschiff?
"Klarmachen zum Ändern" wollte sich die Piratenpartei. Bei der Bundestagswahl am Sonntag erhielt sie zwei Prozent der Zweitstimmen, aber kann sie das die Piraten über Wasser halten? Oder ist die Piratenpartei nur ein Komet in der politischen Landschaft, der bald wieder verglühen wird?
29.09.2009
Von Hanno Terbuyken

Sie ist schon ein Phänomen, diese Piratenpartei. Scheinbar aus dem Nichts hat sie sich einen festen Platz in vielen Köpfen erobert, auch in denen von Journalisten. In Schweden, dem Ursprungsland der Bewegung, gibt es die Partei seit drei Jahren. Da holte die Partei zwar keine nationalen Erfolge, aber immerhin 7,1 Prozent bei der Europawahl und schickte einen Parlamentarier nach Brüssel.

In Deutschland sind die Erfolge bisher kleiner. 0,9 Prozent bei der Europawahl reichte für gar nichts bei der Partei, die es in Deutschland immerhin auch schon seit September 2006 gibt. Bei der Bundestagswahl am Sonntag haben sie von den vielen Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, mit Abstand das beste Ergebnis geholt – allerdings nur bei den Zweitstimmen, bei denen sie mit 2,0 Prozent vor der NPD mit 1,5 Prozent lagen. (Die Rechten konnten sich dafür erschreckende 1,8 Prozent aller Erststimmen sichern.) In konkreten Zahlen bedeutet das: knapp 850.000 Wähler haben sich für die Piraten entschieden. Das ist ein beachtliches Ergebnis, auch wenn sich die Piraten ein optimistischeres Ziel auf die Fahnen geschrieben hatten: "Unser Ziel ist fünf Prozent, ganz klar", formulierte Bundespressesprecher Fabio Reinhardt vor der Wahl. Diese optimistische Vorgabe begründete Reinhardt so: "Wir sind jetzt die siebtgrößte Partei in Deutschland, unsere Themen sind in den Vordergrund gerückt, wir haben unglaublich viel Zuspruch, wir haben quasi eine Wahlempfehlung von der "taz" bekommen."

Verdoppelung mit fliegenden Fahnen

Aber dass das eher ein Wunschtraum als Realität war, wussten die Piraten auch. "Wenn wir nur zwei oder drei oder vier Prozent bekommen, ist das immer noch ein Riesenerfolg", schränkte Reinhardt ein. Maßgabe war die Europawahl, so der Pressesprecher: Eine Verdoppelung des Ergebnisses vom Juni hatte sich die Partei als realistisches Ziel gesteckt. Das haben sie am Sonntag mit fliegenden Fahnen erreicht.

Ob sich die Piraten damit aber als feste Kraft in der politischen Landschaft etablieren, ist nach Meinung des Parteienforschers Gerd Mielke von der Universität Mainz keineswegs sicher. Zwar sei eine kurzfristige Einschätzung immer schwer und ungenau, aber: "Man kann zumindest mal sagen: So wie die Dinge im Augenblick stehen, würde ich die Piratenpartei nach den Kriterien der Parteienforschung eher für eine noch nicht stabile Struktur halten."

Denn den Piraten fehle die gesellschaftliche Verankerung, um dauerhaft Erfolg zu haben, gerade im Vergleich mit den etablierten Parteien. Mielke erläutert: "Wir haben eine Achse zwischen eher marktorientierten und wohlfahrtsstaats-orientierten Parteien, und wir haben eine eher kulturelle Achse zwischen libertären oder autoritären Familien-, Gesellschafts- und Menschenbildern." Diese Achsen seien über Jahre und über gesellschaftliche Gruppen hinweg stabil, und die Piratenpartei passe da nicht rein, sagt der Parteienforscher. Man könnte sie zwar ins weite libertäre Umfeld einordnen, aber eine sozio-ökonomische Verankerung in der Gesellschaft sei nicht zu erkennen, zumindest bis jetzt noch nicht. Mielke: "Man kann für alle Parteien, wenn sie sich denn als dauerhafte Strukturen erweisen, immer zeigen, dass sie irgendwie eine soziale oder eine kulturelle Verankerung etwas stabilerer Art brauchen. Sonst sind sie nur solche Geisterformationen, die gerade mal durchhuschen."

"Vorgeschichte dauert schon Jahrzehnte"

Eine Geisterformation seien die Piraten nun wirklich nicht, widerspricht Piratensprecher Fabio Reinhardt. Seine Partei habe eine kulturelle Verankerung, sie sei schließlich keine Spontangründung aus Protest gewesen: "Die Vorgeschichte der Piratenpartei dauert schon Jahrzehnte." Ein Beispiel für die Langfristigkeit der piratischen Themen sei der Chaos Computer Club, der computerbezogene Themen wie Datenschutz, Privatsphäre, Urheberrecht und ähnliches schon seit seiner Gründung 1986 bearbeite. "Wir haben uns ja nicht gegründet, weil wir irgendwie an die Macht kommen wollen, sondern weil nach vielen Jahren Diskussion gesagt wurde: Um das was wir wollen, endlich besser zu machen, ist es jetzt sinnvoll, es auch auf parlamentarischer Ebene zu machen."

Forscher Mielke streitet nicht ab, dass die Themen der Piraten eine Anziehungskraft auf eine bestimmte Zielgruppe haben, nämlich in der Regel Männer "mit gesteigerten Formen des Internetbezugs", wie der Wissenschaftler es formuliert, oder anders gesagt: Computer-Nerds. Aber das reiche nicht, denn die Themen der Piraten seien zu einseitig. Mielke vergleicht die Bewegung mit der Autofahrerpartei: "Die haben zwar den Titel Partei in ihrer Überschrift, sie sind dann aber doch eine vorübergehende politische Bewegung, die nicht zu einer über ein oder zwei Legislaturperioden hinausreichenden Stabilität findet." Und dass die Zielgruppe der Piratenpartei nicht das gesamte Wahlvolk umfasst, gibt auch Pirat Reinhardt zu: "Am Ende muss man schon einsehen, dass wir mit diesem Programm nicht großartig in Altenheimen um Wähler buhlen können." Die Ergebnisse der U-18-Wahl bestätigen, dass die Jugend die Piraten schätzt: Mit 8,7 Prozent hätten die Wähler unter 18 Jahren die Piraten in den Bundestag gewählt.

Andere Parteien haben den Zugang zum Wähler verloren

Die Zielgruppe der Piraten ist online, genau wie die Partei selbst. Darum halten die Piraten daran fest, dass sie die einzigen sind, die die Zeichen der Zeit im Internet erkannt haben. Pressesprecher Reinhardt spricht in diesem Zusammenhang von einer veränderten Demokratiekultur: Das Internet biete erstmals einen offenen, für alle zugänglichen Raum, in dem jeder seine Ideen zur Diskussion stellen und verbreiten könne. Das sei anders als die alte Verbindung zwischen den Politikern und ihrem Wahlvolk, die nur mittelbar über die etablierten Medien laufe. Parteienforscher Mielke ist da einer Meinung mit der jungen Partei. "Das eigentlich Spannende an dieser Piratenpartei scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass sie deutlich macht, in welch ganz dramatischem Ausmaß die anderen Parteien den Zugang zu bestimmten Generationen und Kulturfeldern verloren haben", sagt der Forscher. Die Piraten brächten die direkte Kommunikation zwischen Politiker und Wähler wieder zurück.

Und dennoch: Nur über das Internet sei eine Mobilisierung der gesamten Wählerschaft nicht machbar. Der entscheidende Punkt ist laut Mielke: "Man braucht eine Sache, und der Ruf nach größerer Beachtung für das Internet ist keine Frage, die irgendwie kulturell oder sozio-ökonomische Einigung und Konstanz erzeugen könnte." Dazu kommt, sagt der Politikwissenschaftler, dass die Piraten die Möglichkeiten und Fähigkeiten der klassischen Parteien noch nicht übernommen hätten: "Ich habe den Eindruck, dass die Piratenpartei bestenfalls die Hälfte des strategischen Repertoires vorführt, das eine moderne Partei braucht, nämlich sie führt vor, dass man das Internet und die Kommunikationstechnologien modernen Zuschnitts zur politischen Interessenvertretung weitaus besser nutzen kann. Aber ich glaube es wäre ein ganz verhängnisvoller Irrtum, wenn man sagt, auch politische Mobilisierung erfolgt in erster Linie übers Internet."

Vergleich mit den Grünen liegt nahe

Als Beispiel bringt Mielke den Wahlkampf von Barack Obama an. Da hatte der Präsidentschafts-Kandidat zwar das Internet ganz intensiv als Vermittlungsweg genutzt, aber in der Sache ging es um die Themen, die die Amerikaner im Alltag bewegten, nicht um klar umgrenzte Randthemen, wie sie die Piratenpartei diskutiert. Nur: Sind die Themen der Piraten wirklich randständig? Der Vergleich mit den Grünen drängt sich auf, die bei der Bundestagswahl 2009 immerhin das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielten. 1980, im Jahr der Gründung der Grünen auf Bundesebene, war auch eine Bundestagswahl, und die Grünen erhielten damals gerade mal 1,5 Prozent. Zur Erinnerung: Die Piraten schafften es drei Jahre nach ihrer Gründung bei dieser Wahl auf 2,0 Prozent. Nur waren die Grünen, sagt Parteienforscher Mielke, der Ausdruck eines systematischen Wertewandels in der Republik, "da ist auch etwas langfristig erklärbares zum Vorschein gekommen." Ihre Ziele – damals zusammengefasst als "sozial, ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei" – entsprangen einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung. Bei den Piraten sei das nicht so.

Andererseits lassen sich solche Schlüsse immer erst im Rückblick ziehen. Zehn Jahre nach ihrer Gründung hatten die westdeutschen Grünen schon vier Bundestagswahlen hinter sich, waren dabei einmal gescheitert (1980), zweimal im Parlament (1983 und 1987) und wieder an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert (1990) – allerdings hatte damals die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung Bündnis '90 acht Parlamentssitze erobert, und 1993 fusionierten die Grünen und das Bündnis '90. Wie sieht es mit der Piratenpartei in zehn Jahren aus?

Piraten in zehn Jahren?

Pressesprecher Reinhardt sieht seine Partei als Taktgeber: "Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Politiker halten sich beide Ohren zu, dann wird die Piratenpartei immer stärker und wir werden als reale politische Macht in Deutschland in den Parlamenten sein und da Druck aufbauen. Die andere Möglichkeit ist, dass die anderen Parteien unsere Positionen stärker mit übernehmen und dass wir einen Impuls geben, der in Deutschland zu einem Umdenken führt: dass die Politik deutlich bürgerfreundlicher wird, mehr Wert auf Datenschutz legt und sich einem überarbeiteten Urheber- und Patentrecht nicht verschließt."

Auch Parteienforscher Mielke wagt einen Blick in die Zukunft der Piraten. Der fällt allerdings nüchterner aus: "Es mag in der Tat sein, dass sich irgendwie in den nächsten fünf oder zehn Jahren herausstellt, dass die Piratenpartei eventuell die Vorhut einer gesellschaftlichen neuen Formation ist, aber man kann einfach darüber jetzt nur spekulieren. Also ich erkenne – wenn ich mal so die klassische Checkliste durchgehe, wie Parteien entstehen – eigentlich diese Struktur und Kontur noch nicht."