Leben mit der Diagnose: "Ich bin dement, stimmt's?"

Leben mit der Diagnose: "Ich bin dement, stimmt's?"
"Dann hieß es 'Carola spinnt', wenn ich sah, dass mit meiner Mutter etwas nicht stimmt." Carola Krieg (54) erzählt das zwei Jahre später in ruhigem Ton. Ihre Mutter (85) lächelt sie an und greift nach ihrer Hand. Jetzt können sie offen darüber sprechen, wie sie die Alzheimer-Krise bewältigt haben.
22.09.2009
Von Katharina Weyandt

Eigentlich war alles ideal für das Alter eingerichtet: Die Eltern waren nach der goldenen Hochzeit nach Hamburg gezogen, in die Nähe von Carola Krieg und zweien ihrer vier Geschwister. In einer Seniorenwohnanlage in einem quirligen jungen Stadtteil, fast um die Ecke von Carolas Wohnung, haben sie zwei Appartements gemietet: eins als Atelier zum Schreiben und Malen für den ehemaligen Kunstlehrer Heinz Krieg, ein wohnliches mit Küche für Gisela Krieg zum gemeinsamen Leben.

Gisela, früher Schauspielerin, managte ein bewegtes Leben mit Familie und einem riesigen internationalen Freundeskreis. "Wir nannten sie THE BRAIN", erinnert sich die Tochter. Die Mutter habe oft gesagt: "Mein größter Horror ist, einmal Alzheimer zu kriegen." Deshalb hatte sie sich beunruhigt untersuchen lassen, als sie nach einer Hüft-Operation plötzlich unsicher beim Schreiben war, zum Beispiel, ob die 3 rechts oder links offen ist. Psychologischer Befund: Alles bestens! Also, wozu sich Sorgen machen?

Uralte Milch im Kühlschrank

Carola Krieg, die mit der Mutter "immer ein besonders inniges Verhältnis" verband, wie sie sagt, fühlte in dieser Zeit dennoch Trauer, "dass ich so wenig von meiner Mutter hatte, weil mein Vater so dominant war und sie sich zurückzog." Dass Heinz Krieg (88) enorm aktiv, kontaktfreudig und meinungsstark ist und viel Interessantes zu erzählen hat, während seine Frau sich lächelnd im Hintergrund hält - ist das eine Folge der eingespielten Rollenverteilung in der langen Ehe, oder ist es ein Zeichen einer unheilvollen Veränderung, welche die Tochter in ihrer besonderen Sensibilität spürt? "Sie hat es genial überspielt", weiß Carola Krieg heute, "wenn sie etwas nicht wusste, verschob sie die Frage freundlich auf später. Sie ist nicht mehr ans Telefon gegangen, dann musste sie sich nichts merken und ausrichten." Auch praktische Anzeichen findet die besorgte Tochter: "Dann guckt man in den Schrank und da stehen sechs gleiche Dosen Kaffee, obwohl der Laden nebenan ist, und die Milch im Kühlschrank ist uralt." Die Mutter weigert sich lange, sich noch einmal untersuchen zu lassen, und die Tochter scheut sich einzugreifen. "Man will ihnen ja nicht etwas wegnehmen, was sie noch können.

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Schließlich wird in der Universitätsklinik klar Alzheimer diagnostiziert. Für Heinz, der schon seit seiner Kriegsverletzung nur eine Hand gebrauchen kann, fällt Gisela sowohl praktisch wie auch als Organisatorin immer mehr aus. Er erlebt: "Sie musste mir bei etwas helfen, und ich musste ihr es erst erklären. Ich musste mich jetzt den ganzen Tag um sie, um den Haushalt kümmern, von dem ich nichts verstand, und kam nicht mehr zum Lesen und Briefeschreiben." Die drei Kinder in Hamburg versuchen zu helfen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen stuft die Eltern beide in die Pflegestufe 1 ein. Carola Krieg und ihre Geschwister vor Ort rücken noch näher zusammen. Es bedrückt sie mitzuerleben, wie sich "in einer Zeit, in der man das eigene Leben aktiv gestaltet, eine individuelle Persönlichkeit in der Generation darüber auflöst", formuliert sie. Jedoch könnten sie "die emotionale von der Handlungsebene trennen" und so pragmatisch für die Eltern aktiv werden, wie sie es in ihren Berufen geübt hätten – die Gründung und Leitung eines Theaters im Duo mit ihrer Schwester, erfolgreich seit fast dreißig Jahren. Zwei Straßen weiter ist ein privates Pflegeheim, in dem sie einmal den Vortrag einer Freundin über Alzheimer gehört hat. Hier hat sie die Mutter vorsorglich angemeldet, während die Entscheidung für den Umzug reift.

Neuer Rhythmus im Pflegeheim

Gut, dass sie beizeiten von den Eltern alle Vollmachten bekommen haben. "Hier, die Dienstpost", sagt Vater schmunzelnd und reicht der Tochter einen roten Karton, in dem er seitdem alle amtlichen Schriftstücke sammelt. Sie bearbeitet alles: "Ich bin überhaupt kein Papiermensch, aber da muss man durch."

Die Lage spitzt sich zu, als die Töchter das Atelier des Vaters in ein bewohnbares Appartement verwandeln. Während sie Bücher, Briefe, Bilder aussortieren, liegt der große Mann krank daneben im Bett, fühlt sich schwach wie nie und kann nicht mehr für seine Frau sorgen. Jetzt ist endgültig klar, dass Gisela Krieg schnell einen Pflegeplatz braucht, damit er wieder Kraft schöpfen kann. Die Krankheit, vermutet Carola Krieg, war seine Art, mit der Depression umzugehen, sich von Dingen zu trennen, und mit dem Schuldgefühl, seine Frau abzugeben. Carola Krieg fragt ab da täglich in dem Heim, ob ein Zimmer frei sei, denn von der Atmosphäre und Betreuungsphilosophie sticht es aus den übrigen im Umkreis heraus.

Als die Mutter einziehen kann, findet sich ein neuer Rhythmus: Morgens macht Heinz Krieg sich auf den kurzen Weg ins Heim zu seiner Frau: "Ich schreibe ihr jeden Tag einen Brief, wie zu der Zeit, in der wir uns über die Entfernung zweier Städte kennen und lieben lernten." Er liest ihn ihr vor, hat auch ein Gäste- und Tagebuch angelegt, das in ihrem Zimmer auf dem Tisch liegt. Nach der gewohnten gemeinsamen Morgenandacht frühstücken sie zusammen im großen Speisesaal; wie in einem Hotel, nur muss er nicht Müsli und Knäckebrot selbst zum Tisch tragen. Dann stecken sie wieder zusammen in ihrem Zimmer. In dem sicheren Umfeld gedeihen Zärtlichkeit und Vertrautheit umso stärker, trotz der Stunden der Trennung.

Der Glaube erleichtert die Akzeptanz

Er schleppt Bücher an, liest ihr aus den "Deutschen Balladen" vor oder Gebete, die er in einer schwarz-roten kleinen Kladde gesammelt hat. "Hier, von Hans Lehndorff: Komm in unser dunkles Herz, Herr, mit deines Lichtes Fülle, dass nicht Neid, Angst, Not und Schmerz deine Wahrheit uns verhülle, die auch noch in tiefster Nacht Menschenleben herrlich macht." Auch im Heim bringt er sich ein. Früher hat er seine Kollegen in der Schule in witzigen Szenen portraitiert, jetzt zeichnet er täglich ein Bilderrätsel zu einem Lied auf die Tafel mit dem Tagesplan im Flur. Und freut sich, wenn seine Frau es sofort rät. Nachmittags pflegt er seine eigenen Kontakte. Sie nimmt an Angeboten des Heims teil oder trifft sich mit einer Freundin, die sie hier kennen gelernt hat.

Der Glaube, zu dem die Eltern erst als junge Erwachsene fanden, erleichtere es ihnen, die Lage anzunehmen, meint Carola Krieg. Das neue Zuhause seiner Frau nennt Heinz Krieg immer wieder das "Vorzimmer des lieben Gottes". An ihrer Zimmertür klebt eine Fotomontage, die einer der Söhne gestaltet hat - Gisela Krieg heute und als junge Schauspielerin. Sie selbst erklärt: "Das Foto zeigt, dass ich nicht immer gleich ausgesehen habe. Das zeigt verschiedene Stadien." "Ich bin dement, stimmt's?", sagt sie im heiteren Gespräch mit Mann und Tochter. Es hat seinen Schrecken für sie verloren.

Offenheit hilft in der Vorbereitung

Carola Krieg hat ihr eigenes Ritual mit ihrer Mutter. Ein täglicher Anruf um halb acht Uhr morgens, bei dem sie am Telefon mit ihr singt: "Ich oft mit dem Computer, in dem ich die Texte nachschaue, sie kann sie alle." Etwa einmal wöchentlich besucht sie sie, sie gehen oft spazieren: "Mein Vater fordert sie stärker, er ist Lehrer durch und durch, ich gehe mehr auf sie ein."

Die Offenheit in Bezug auf das eigene Leben, erzählt Carola Krieg, habe sie von den Eltern von klein auf gelernt. Nicht zu sagen, alles sei in Ordnung, wenn das nicht stimme. Das sei das größte Pfund. Ein Glück sei die sanfte Stimmung der Mutter. Als sie, Carola, selbst durch einen Bandscheibenvorfall hilfsbedürftig war, habe sie gemerkt, wie schwer ihr es gefallen sei, Hilfe anzunehmen, ohne sperrig und aggressiv zu werden. Mit einer Psychotherapie habe sie sich auf diese künftige Herausforderung besser vorbereitet. Die Beziehung zu ihrer Mutter in dem neuen Umfeld stimmt sie glücklich: "Jetzt habe ich von ihr mehr als früher", sagt sie mit einem liebevollen Lächeln.