Sich auf der Straße wieder wie Bürger fühlen

Sich auf der Straße wieder wie Bürger fühlen
Ulrich Haag ist Gefängnispfarrer an der JVA Aachen. In seiner Arbeit hat er immer wieder mit Gewalttätern zu tun, auch mit solchen wie den Totschlägern von Solln. Seine Meinung ist: Angst vor Zivilcourage muss nicht sein, wenn man die Menschen nicht allein lässt.
16.09.2009
Von Ulrich Haag

Zwischen Jericho und Jerusalem liegt München-Solln. Dort überfallen drei Kriminelle eine Gruppe Jugendliche. Den Samariter, der ihnen zur Hilfe eilt, schlagen sie tot.

Liebe Politiker, liebe Polizeipräsidenten, liebe Experten – verschonen Sie uns mit dem Gerede von Zivilcourage. Zivilcourage ist beherztes Eingreifen, bis notfalls jemand kommt. Es kommt aber längst keiner mehr, jedenfalls nicht innerhalb eines vertretbar kurzen Zeitraums. Kein Begleitpersonal in der S-Bahn, kein Aufsichtspersonal auf dem Bahnsteig. Wir haben die öffentlichen Räume weitgehend entblößt. Die Straße preisgegeben.

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"Junge, das Kaugummi kannst du nicht einfach da hinrotzen, das klebt dem nächsten an den Schuhen." - "Die Schuhe kannst du nicht auf den Sitz gegenüber legen, da will sich gleich wieder jemand hinsetzen." "Au, hab ich nicht dran gedacht, tschuldigung." Solche Begegnungen hatte ich einige während meiner Kindheit und Jugend. Wildfremde Leute, die mich auf etwas aufmerksam gemacht haben. Nicht nur die Schule. Nicht nur das Elternhaus. Die Erziehung eines jungen Menschen zum öffentlichkeitstauglichen Mitbürger wird zu einem wichtigen Teil von der Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit übernommen. "Du wirst wahrgenommen. Du wirst beachtet. Das, was du tust, wirkt sich auf andere aus. Achte darauf!" Hätten die Täter von Solln solche Botschaften als 12jährige zu hören bekommen, ich vermute, sie wären mit 18 nicht auf diese Weise zu Mördern geworden.

Doch mittlerweile kann es lebensgefährlich sein, so etwas zu sagen. Warum? Weil wir die Anwesenheit von Ordnungspersonal im öffentlichen Raum auf ein kaum noch zu vetretendes Minimum zusammengespart haben. Damit haben wir Erwachsenen eine wichtige Gestaltungsaufgabe vernachlässigt. Wir haben die jungen Leute ohne Orientierung gelassen. Nun nach einem schärferen Jugendstrafrecht zu rufen, wird ihnen nicht gerecht.

Wir brauchen auch keine weiteren Beobachtungskameras. Wir brauchen Menschen, Ansprechpartner. In jedem Zug sollte wieder ein Schaffner mitfahren, besser zwei. Auf jedem U-Bahnsteig wieder jemand sitzen, der hinschaut. In den Nachtbussen fährt kein Busfahrer mehr alleine. In jedem Stadtteil gehen wieder zwei Polizisten Streife. Zu Fuß, versteht sich. Wer das alles bezahlen soll? Bin ich kein Experte drin. Aber wir haben gerade fünf Milliarden Abwrackprämie ausgegeben. Rechnet man 50.000 Euro Brutto pro Job pro Jahr, und das ist üppig, könnte man allein damit 100.000 Stellen im öffentlichen Bereich finanzieren. Nicht gerechnet die Steuern, die an den Staat zurückfließen.

Zwischen Jericho und Jerusalem liegt München-Solln. Und Aachen. Und Stolberg. Wir wollen uns auf der Straße wieder wie Bürger fühlen. Dann zeigen wir auch Bürgermut, übersetzt Zivilcourage.