Die Bilder haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Die niedergeknüppelte Demonstration gegen den Schah, die tödlichen Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg und die amerikanischen Napalm-Bomben auf wehrlose Vietnamesen werden gemeinhin als Ursache für die Politisierung jener Generation angeführt, die als die "68er" Geschichte geschrieben hat. Die Aufnahmen sind deshalb auch unverzichtbarer Bestandteil aller Filme, die sich mit der Roten Armee Fraktion beschäftigen. Für Andres Veiel aber greift die Erklärung zu kurz. Wenn diese Ereignisse, auf die sein Film mit Hilfe dokumentarischer Einschlüsse immer wieder verweist, tatsächlich die Keimzelle des Terrorismus waren: Warum sind dann nicht Zehntausende, sondern bloß eine Handvoll in den Untergrund gegangen? "Wer wenn nicht wir" ist die Antwort auf diese Frage. Veiels Film beleuchtet das gesellschaftliche Klima der frühen Sechziger und erzählt auf diese Weise quasi die Vorgeschichte zu Bernd Eichingers und Uli Edels RAF-Drama "Der Baader Meinhof Komplex".
Neuer Blickwinkel auf vermeintlich bekannte Ereignisse der Zeitgeschichte
Reizvoll ist Veiels Arbeit aber auch aus anderem Grund: Dank "Black Box BRD" (ebenfalls zum Thema RAF) oder "Der Kick" zählt der Schwabe zu den wichtigsten Chronisten der jüngeren deutschen Geschichte; "Wer wenn nicht wir" ist sein erster Spielfilm. Seine lange dokumentarische Vergangenheit mag erklären, warum die Inszenierung vergleichsweise zurückhaltend ausgefallen ist: Der Film stellt sich voll und ganz in den Dienst der Handlung, der Figuren und damit auch der Darsteller. Trotzdem ist Judith Kaufmanns ruhige Bildgestaltung von größter Sorgfalt.
Im Zentrum steht die wechselvolle Beziehung zwischen der aufmüpfigen Pastorentochter Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) und ihrem Freund Bernward Vesper (August Diehl), dem Sohn des Blut-und-Boden-Literaten Will Vesper. Glaubwürdig und nachvollziehbar beschreibt Veiel (Buch und Regie), wie unterschiedlich das Pärchen mit der Schuld ihrer Väter und dem eigenen Zorn auf den Staat umgeht: Während sich Ensslin unter dem Einfluss von Andreas Baader (Alexander Fehling) für den Terror entscheidet und ihrem Kampf sogar das eigene Kind opfert, das sie bei Vesper zurücklässt, verirrt sich der Freund immer mehr im Drogenwahn.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Neben Veiels Gespür für Dramaturgie zeichnet sich der Film durch die herausragende Führung der Schauspieler aus; es ist vor allem Diehl und Lauzemis zu verdanken, dass man der insgesamt doch eher freudlosen Geschichte bereitwillig folgt. Dank Veiels Renommee sind auch kleinste Nebenrollen (mit unter anderem Thomas Thieme, Benjamin Sadler und Hark Bohm) herausragend besetzt. "Wer wenn nicht wir" ist nicht zuletzt wegen des neuen Blickwinkels auf vermeintlich bekannte Ereignisse der Zeitgeschichte ein Werk, das unbedingt eine Ausstrahlung um 20.15 Uhr verdient gehabt hätte.