Gauck zu Flüchtlingen: "Wir neigen zur Selbstgerechtigkeit"

Foto: dpa/Stephanie Pilick
Hungerstreikende Flüchtlinge am Alexanderplatz in Berlin.
Gauck zu Flüchtlingen: "Wir neigen zur Selbstgerechtigkeit"
Nie waren nach 1945 weltweit mehr Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung als heute. Auf dem 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz der Evangelischen Akademie forderte Bundespräsident Joachim Gauck mehr Solidarität gegenüber Flüchtlingen aus Krisengebieten. Während am Montag vor Sizilien erneut 30 Menschen auf einem Flüchtlingsbot starben, demonstrieren Flüchtlinge in einem Schulgebäude in Berlin-Kreuzberg unter massivem Polizeieinsatz für ihr Aufenthaltsrecht.

"Stoppt Dublin III!" Die etwa 25 Demonstranten vor dem Französischen Dom auf dem Berliner Gendarmenmarkt hatten sich gut sichtbar vor dem Eingang zum 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz postiert und forderten lautstark die Abschaffung der so genannten "Dublin III"- Verordnung der Europäischen Union. Laut dieser Regelung müssen Flüchtlinge aus Krisengebieten wie Syrien oder dem Sudan in dem Land ihren Asylantrag stellen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Die Bundesregierung lehnt eine Reform der seit Anfang des Jahres geltenden Verordnung bisher strikt ab, obwohl gerade in den europäischen Grenzländern im Süden und Osten die Unterbringung der Flüchtlinge oft menschenunwürdig ist und kein rechtstaatliches, faires Asylverfahren garantiert ist.

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Bundespräsident Joachim Gauck richtete in seiner Eröffnungsrede des Symposiums einen indirekten Appell an die Bundesregierung. "Blicken wir nur auf uns selbst, neigen wir nicht selten zur Selbstgerechtigkeit", sagte Gauck. Flüchtlingen, die im Süden und Südosten europäischen Boden betreten, müsse mit einer gesamteuropäischen Solidarität begegnet werden. "Es ist unsere gemeinsame Verantwortung als Europäer, sie menschenwürdig zu behandeln". Gauck betonte, die EU habe zwar kein Interesse an einer unkontrollierten Zuwanderung, habe aber die Pflicht, nicht nur Grenzen, sondern auch Menschen zu schützen und europaweit für gleiche Verfahrens- und Anerkennungsstandards zu sorgen. "Wenn wir aufhören, mehr tun zu wollen, verlieren wir unsere Selbstachtung", so Gauck. Die Bundesregierung weist die Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik mit dem Argument zurück, dass kein EU-Land so viele Flüchtlinge aufnehme wie die Bundesrepublik.

Aktuelle Beispiele zeigen die Brisanz der Flüchtlingsdebatte

Besondere Aktualität gewann das Symposium durch die Nachricht von einem erneuten Flüchtlingsdrama vor Sizilien. Am Montagmorgen waren 30 Menschen erstickt, die mit knapp 600 weiteren Asylsuchenden auf einem kleinen Boot unterwegs waren. In diesem Jahr kamen bereits etwa 60.000 Bootsflüchtlinge nach Italien, vor allem Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land fliehen. Im Jahr zuvor waren es insgesamt nur knapp 43.000 gewesen. Außerdem harren derzeit noch 30 Flüchtlinge auf dem Dach eines Schulgebäudes in Berlin-Kreuzberg aus. Sie fordern die Unterbringung in Auffanglagern, wollen ihre Abschiebung und Rückführung in die Länder verhindern, in denen sie in Europa angekommen sind und kämpfen dafür, dass die Residenzpflicht abgeschafft wird.

Bundespräsident Joachim Gauck spricht am 30.06.2014 in Berlin im Französischen Dom beim 14. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Laut einer Studie der UNHCR-Flüchtlingskommission befinden sich derzeit weltweit fast 52 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und politischer oder religiöser Verfolgung. Hans ten Feld, Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland, lobt die deutsche Regierung derweil für ihren Entschluss, weitere 10.000 Flüchtlinge aus dem syrischen Kriegsgebiet aufzunehmen. In der Frage um Asylsuchende aus Syrien gelte Deutschland als Vorbild, so ten Feld. In Deutschland stellen weltweit am meisten Menschen Asylanträge.Allerdings wies ten Feld darauf hin, dass allein der Libanon 1 Million der etwa 2,5 Millionen syrischen Flüchtlinge aufgenommen habe. Das entspräche - gemessen an der Bevölkerung - etwa 20 Millionen syrischen Flüchtlingen in Deutschland.

Kirchliche Initiativen bringen Deutschlands Flüchtlingspolitik voran

Für Asylsuchende fordert ten Feld eine Verkürzung des Arbeitsverbots auf drei Monate, eine Verbesserung der Verfahren zur Familienzusammenführung sowie eine Reform der Einstufung von "sicheren Herkunftsländern". Es sei unvertretbar, dass Roma, die in den Ländern des westlichen Balkans politisch und gesellschaftlich diskriminiert und verfolgt werden, an den EU-Grenzen abgewiesen würden. Äußerungen aus dem Bundesinnenministerium, Roma-Flüchtlinge aus dem Balkan versuchten in Deutschland nur von den Vorteilen des Sozialstaates zu profitieren, waren vor wenigen Monaten auf scharfe Kritik gestoßen.

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Selmin Çali?kan, die Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, kritisierte auf dem Berliner Flüchtlings-Symposium die so genannte "Push-back"-Praxis der Grenzschutzbehörden in Süd-Ost-Europa. So habe die griechische Küstenwache kürzlich ein Boot mit syrischen Flüchtlingen mit scharfer Munition beschossen. "Warum werden Grenzen mehr geschützt als Menschen?" fragte Çali?kan. Das "Mare nostrum"-Programm, das italienische Behörden nach dem Flüchtlingsdrama vor Lampedusa ins Leben gerufen hatten und das bereits tausenden Bootsflüchtlingen das Leben gerettet hat, müsse unter eine gesamteuropäische Verantwortung und Finanzierung gestellt werden.

Die Länder an den EU-Außengrenzen könnten die Flüchtlingsströme gerade aus Afrika und aus Syrien in der Regel kaum bewältigen. Ihnen fehlten finanzielle und infrastrukturelle Strukturen sowie rechtsstaatliche Verfahrenssicherheit. Dadurch seien sie oft heillos überfordert. Wenn die Bundesrepublik mit ihrer Flüchtlingspolitik vergleichsweise gut dastehe, sei das vor allem kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verdanken, sagte Çali?kan. "Sie nerven die Regierung beständig. Dafür danke ich Ihnen!"

Krisengebeutelte EU-Außenstaaten tun sich schwer mit Asylpolitik

Matthias Oel, Referatsleiter für Asylfragen bei der Europäischen Kommission, betonte, die Abschaffung des eben erst in Kraft getretenen "Dublin-III"-Verfahrens zu fordern, sei nicht der richtige Weg. Anstattdessen müsse sich die kommende EU-Kommission vor allem darüm bemühen, das europäische Asylsystem in allen Staaten umzusetzen und sich dem Krisenmanagement am Ausgangsort widmen. Der konkrete Handlungsspielraum der Kommission sei allerdings begrenzt. Einerseits aufgrund der Zusammenarbeit mit rechtsstaatlich nicht gefestigten Ländern beispielsweise in Nord-Afrika und andererseits durch ein knappes Budget von nur 1,7 Milliarden Euro für sieben Jahre.

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Ministerialdirigent Michael Tetzlaff aus dem Bundesinnenministerium stellte klar, dass die Diskussion um eine Reform des europäischen Asylsystems und um die Ausweitung der Flüchtlingsaufnahme einen "schwierigen Hintergrund" habe. Dies gelte angesichts der hohen Arbeitslosenquoten gerade in den krisengeschüttelten Staaten der Union. Wie problematisch diese Debatte sei, habe nicht zuletzt der Erfolg rechtsextremer Parteien bei der Europawahl gezeigt. "Wie will man die Ausweitung des Resettlement-Verfahrens den Spaniern und Griechen verkaufen?", fragte Tetzlaff. Das Resettlement ist neben der freiwilligen Rückkehr ins Heimatland oder Asyl in einem Land eine von drei dauerhaften Lösungen für Flüchtlinge. Dabei werden sie in einem Drittland angesiedelt, wenn der Flüchtlingsstrom das Erstzufluchtsland überfordert.

Auch von Flucht und Vertreibung Betroffene kamen beim Flüchtlings-Symposium zu Wort. Ein syrischer Flüchtling aus einem Vorort von Damaskus berichtete, wie er gemeinsam mit seiner Frau und ihrer Tochter zunächst nach Thailand, dann nach Ägypten und schließlich mit einem Fischerboot über zwölf Tage auf hoher See nach Italien geflohen sei. Dort sei seine Familie Gewalt, religiöser Erniedrigung und einer menschenunwürdigen Unterbringungssituation ausgesetzt gewesen. Er selbst engagiert sich derzeit im Umkreis der besetzen Schule in Berlin-Kreuzberg und auf zahlreichen Kundgebungen gegen die "Dublin III"- Verordnung, deren Anwendung unter anderem seine eigene Rückführung nach Italien bedeuten könnte.