Die evangelische Kirche hat sich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 als Verstärker nationaler Interessen missbrauchen lassen - an dieses Versagen soll zum 100. Jahrestag erinnert werden. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, sprach im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst über den langen Weg der Protestanten, um ihre Lehren zu ziehen, und über seine Hoffnung auf das Friedensprojekt Europa.
Herr Ratsvorsitzender, wenn Sie von der Kriegsbegeisterung im August 1914 lesen: Welche Gefühle weckt das bei Ihnen?
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Nikolaus Schneider: Als der Krieg erklärt wurde, sangen die Menschen auf den Straßen. Vor dem Berliner Schloss wurde sogar "Nun danket alle Gott" intoniert. Ich bin erschrocken, dass mit einer solchen Begeisterung der Krieg begrüßt wurde.
Ist das Gotteslästerung?
Schneider: Wenn das heute so geschähe, würde ich sagen: Ja. Aber ich unterstelle den Menschen damals nicht, dass sie mit ihrer Kriegsbegeisterung Gott lästern wollten. Auch Gottesbilder und ethisches Verhalten muss man aus dem zeitlichen Kontext heraus begreifen. Es war sicher schwer für Menschen, sich dem zu entziehen, was überall so gedacht wurde.
Auch in der Kirche?
Schneider: Auch in den Kirchen gab es diese heute kaum nachvollziehbare Kriegsbegeisterung - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England oder Russland. Und nicht nur im Protestantismus, auch in der Orthodoxie und in der römisch-katholischen Kirche. Selbst wenn damals Papst Benedikt XV. gegen den Krieg gepredigt hat. Ein nicht geringer Teil der damaligen Theologen ist von der biblischen Friedensbotschaft her kritisch infrage zu stellen. Sich von einer Theologie zu befreien, die Gott und Gottvertrauen in den Dienst der je eigenen Nation stellt, hat lange gedauert.
"Ich bin überzeugt, dass Jesus Christus auch damals ganz nahe bei den leidenden Menschen auf den Schlachtfeldern war. Und bei denen, die im Kriegstaumel den Friedensgedanken stark gemacht haben"
Auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten, die in den Ersten Weltkrieg zogen, standen die Wörter "Gott mit uns". War Gott nicht auch bei den Gegnern?
Schneider: Natürlich war er auch bei den Gegnern, aber vor allem war er auf der Seite des Friedens. Jesus Christus war und ist der Friedefürst.
Aber es scheint, er war von den Schlachtfeldern weit weg.
Schneider: Das ist keine Frage, Jesus Christus war weit weg von der Legitimation nationaler Kriegsinteressen in seinem oder in Gottes Namen. Aber ich bin überzeugt, dass Jesus Christus auch damals ganz nahe bei den leidenden Menschen auf den Schlachtfeldern war. Und ich bin fest davon überzeugt, dass er bei denen war, die im Kriegstaumel den Friedensgedanken stark gemacht haben. Bei den wenigen, die sich in seiner Nachfolge dagegen gewehrt haben, dass der christliche Glaube als Verstärker von nationalen Interessen benutzt wurde.
Wie wird die Evangelische Kirche in Deutschland im August an den 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs erinnern?
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Schneider: Wir werden das in vielfältiger Weise tun. Etwa in vielen Gedenkgottesdiensten, die von Landeskirchen gestaltet und verantwortet werden. Von der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE) wird es einen bewusst über Landesgrenzen hinweg geplanten Gottesdienst im Elsass geben. An einem der markanten Orte des Krieges, in Gunsbach in unmittelbarer Nähe des Schlachtfeldes auf dem Lingekopf (am 3. August, d.Red.). Dort wollen die europäischen Kirchen sich gemeinsam ihrem konkreten geschichtlichen Versagen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stellen. Und sich gemeinsam auf ihren Auftrag besinnen, den Frieden Gottes zu verkündigen und für den Frieden auf Erden zu arbeiten. Dieses Gedenken wird verbunden mit einem internationalen Jugendlager.
Was ist von der EKD zu erwarten?
Schneider: Die EKD wird eine Erklärung veröffentlichen, in der wir an den Kulturbruch und auch das Versagen unserer Kirche erinnern. Zugleich aber wollen wir verdeutlichen, was wir aus unserem Versagen und unseren theologischen Irrwegen gelernt haben - nicht nur im Ersten, sondern auch im Zweiten Weltkrieg. Denn unsere Lektion haben wir im Grunde erst richtig nach 1945 gelernt. Es brauchte Millionen Toter, um zu begreifen, dass die theologische Legitimation von Kriegen um Gottes und um der Menschen willen so nicht weitergehen darf.
In den vergangenen Monaten wurde die Situation von 1914 in Serbien mit der 2014 in der Ukraine verglichen: Wie kann ein regionaler europäischer Konflikt zu einem Weltenbrand werden? Sehen Sie eine ähnliche Gefahr heute?
Schneider: Wir alle hoffen sehr, die europäischen und weltweiten politischen und diplomatischen Mechanismen verhindern, dass die Konflikte um die Krim und die Ukraine zu einem heißen Krieg führen. Ich habe gleichwohl die Sorge vor einem neuen Kalten Krieg und das Hineinrutschen in eine neue Blockkonfrontation.
"Die demokratischen Strukturen dürfen nicht unterlaufen werden. Das ist eine der großen Herausforderung für die Europäische Union"
Die europäische Einigung war ein wesentlicher Schritt, der Mechanismen zur Friedensbewahrung geschaffen hat. Sehen Sie diese Fortschritte in Gefahr durch das Erstarken von Nationalisten und Populisten wie in Frankreich und Großbritannien?
Schneider: Wir sind mit dem Projekt Europa durchaus in einer kritischen Situation. Die EU wird eine Zukunft haben. Die Frage ist nur: welche? Wie weit wird es uns gelingen, trotz der erstarkenden Nationalisten und Populisten in vielen Ländern der EU zu einer stärkeren politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeit zu kommen? Ich denke, es wird davon abhängen, ob und wie weit die Nationen bereit sind, Souveränität aufzugeben und die demokratische Legitimation der europäischen Institutionen zu stärken.
Diese Frage wird nach der Europawahl kontrovers diskutiert.
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Schneider: Ich plädiere für mehr Europa. Das Friedensprojekt Europa hat noch lange nicht ausgedient hat. Es muss mit einem erweiterten Friedensbegriff ausgestattet werden. Frieden heißt auch soziale Sicherheit, heißt auch Wohlfahrt. Europa muss sich für viele Menschen als eine alltäglich erfahrbare Wohltat auswirken.
Zurzeit stehen die Zeichen aber auf Freihandel - etwa mit dem Abkommen, das zwischen der EU und den USA verhandelt wird.
Schneider: Zum Frieden gehört heute die ökonomische Dimension, sonst ist das demokratische System nicht mehr tragfähig für das, was gesellschaftlich und sozialpolitisch bewältigt werden muss. Freihandel und europäische Sozialunion dürfen daher nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir können es ja nicht im Ernst riskieren, dass sich neben dem demokratischen System eine Art Wirtschaftsfeudalismus etabliert. In dem etwa die nationale Gerichtsbarkeit nicht mehr gilt, sondern in dem eine geheime Gerichtsbarkeit hinter verschlossenen Türen Konflikte regelt mit enormen Auswirkungen auf das Leben aller Menschen. Die demokratischen Strukturen dürfen nicht unterlaufen werden. Das ist eine der großen Herausforderung für die Europäische Union.