Mit der in Deutschland 2008 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention wurde das Thema Inklusion von außen an die Kirche herangetragen. Doch nach und nach entdecken Theologen Inklusion als ureigenen Auftrag: Jesus ging zu den Ausgestoßenen und nahm sie wie selbstverständlich in seine Gemeinschaft und sein Heilsversprechen auf. Über Abraham sprach Gott stellvertretend seinen Segen für alle Menschen. Und vereinen nicht gerade Kirchengemeinden wie nur wenige andere Gemeinschaften Menschen aus verschiedensten Familien und Schichten?
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Kirche muss sich offensiver zu ihrem inklusiven Charakter bekennen, fordert Thorsten Moos, Professor für Religionspädagogik am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. "Kirche hat doch den Anspruch, dass alle dazugehören sollen", sagt er. "Nicht nur die Schlauen, die Reichen und die Schönen, sondern alle. Wir müssen zeigen: Da sind wir stolz drauf!"
Bestes Beispiel für den inklusiven Charakter der Kirche ist für Moos der Konfirmandenunterricht: Er sei eine der letzten Veranstaltungen in der Gesellschaft, bei der Jugendliche aus verschiedenen Schichten zusammenkämen – vom Förderschüler bis zum Gymnasiasten. "Egal, ob sie arm sind oder reich, egal, ob sie gut oder schlecht deutsch können." Damit leiste die Kirche einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft, der oft übersehen werde. "Wir brauchen im Konfirmandenunterricht Arbeitsformen, die die verschiedenen Begabungen schätzen und zum Zuge kommen lassen", fordert Moos. "Eben nicht nur diskutieren und Texte lesen und schreiben, sondern auch Besuche machen, im Gottesdienst mithelfen, und zwar nicht nur dem Pfarrer, sondern auch dem Küster."
"Es gibt nur ein Milieu, das plant - und zwar für die anderen mit"
Inklusion als Stärke und Aufgabe der Kirche - daran glaubt auch Ulf Liedke. Er lehrt Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden. "Der Gottesdienst ist ein Ort, an dem noch immer Menschen aus verschiedenen Milieus zusammenkommen. Das ist eine Chance, die die Kirche nutzen sollte."
Das sieht auch Jörg Stoffregen so. Er koordiniert das Netzwerk "Kirche inklusiv" der Nordkirche. Aber: "Es gibt häufig nur ein Milieu, das plant – und zwar für die anderen mit", beklagt der Diakon. In einer Kirche für alle müssten aber auch alle zusammenkommen, um gemeinsam zu planen. "Ein Gemeindefest, das von einem Rollstuhlfahrer mitgeplant wird, wird anders sein als ein Gemeindefest, bei dem er nicht mitplant." Kirchengemeinden müssten den Beteiligungsgedanken ernster nehmen, fordert Stoffregen: "Das Thema wird von vielen noch nicht als Chance für eine offene Kirche in einer offenen Gesellschaft begriffen."
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Bei Inklusion in Kirchengemeinden geht es nicht nur um die bessere Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Auch Arme, Kranke, Alte oder Menschen mit Migrationshintergrund sollen sich gut aufgehoben fühlen. Eine weitere wichtige Gruppe sind alte Menschen. Die Orientierungshilfe "Da kann ja jede(r) kommen" der Evangelischen Kirche im Rheinland gibt Anregungen für die Gemeindearbeit. Etwa: Fühlen sich interreligiöse Familien in der Gemeinde wohl? Kann man sich über die Angebote auch in leichter Sprache informieren? Heißt die Jugendarbeit behinderte Kinder willkommen?
Inklusive Gemeinde bedeutet auch, gut vernetzt zu sein am Ort, den Kontakt zu Funktionspfarrern in Krankenhäusern, Gefängnissen und Kasernen halten, zu einer guten Nachbarschaft am Ort beitragen. "Inklusionspartnerschaften" nennt Ulf Liedke solche Kooperation. Die Stärkung der Ortsgemeinde ist ihm ein Anliegen: Kirchengemeinde als eine Gemeinschaft, die lokal verwurzelt ist und mit den Menschen vor Ort zusammenarbeitet, statt sich abzuschotten. Als Absage an Profilgemeinden will Liedke das nicht sehen - es gebe auch Profilgemeinden mit inklusivem Charakter. "Aber die Entwicklung von Profilgemeinden sollte gut abgestimmt und auf den Inklusionsgedanken hin überprüft werden", fordert er. "Von den kleinen, unscheinbaren Schritten in den Ortsgemeinden hängt letztlich entscheidend ab, ob Inklusion gelingt."
Um barrierefreier und offener zu werden, müssen Kirchengemeinden keinen großen Aufwand betreiben, glaubt Liedke. Wichtig sei, dass sie sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft engagieren. Alle zielgruppenspezifischen Sonderangebote in der Gemeinde gehören auf den Prüfstand, fordert der Inklusions-Experte. Heißt das, dass Aktivitäten wie Seniorenkreise oder Mutter-Kind-Gruppen ersatzlos gestrichen werden müssen? Nein. "Es geht darum, zu prüfen, wo ein Angebot vielleicht noch für eine breitere Zielgruppe geöffnet werden kann", sagt Liedke.
Behinderte sind Glieder und nicht Klienten der Kirche
Das Thema Inklusion, fordert Liedke, solle aber ohne ideologische Scheuklappen angegangen werden. Und vor allem dürfe nicht über den Kopf der Betroffenen hinweg entschieden werden. "Es gibt zielgruppenspezifische Angebote, die sehr gut funktionieren, und manchmal wollen Gruppen von Menschen mit Behinderungen auch mal unter sich bleiben", sagt der Diakonie-Experte. Ein Beispiel sind für ihn Gehörlosen-Gemeinden. "Die haben eine ganz eigene Kultur entwickelt. Das kann man nicht einfach abschaffen."
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"Menschen mit Behinderung sind Glieder und nicht Klienten der Kirche", betont Liedke. Deshalb fordert der Professor: Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung muss "entdiakonisiert" werden. Menschen mit Behinderung sollen nicht ausschließlich als Hilfsempfänger wahrgenommen werden. "Es geht nicht um die Frage, was wir als Gemeinde oder Diakonie für den Erwerbslosen, den Rollstuhlfahrer oder die Alleinerziehende tun können, sondern um die Frage, was er als Mitglied der Gemeinde in die Gemeinschaft einbringen kann", erklärt Jörg Stoffregen.
Lange Zeit galten Behinderungen und Krankheiten als Strafe Gottes. Im 19. Jahrhundert begannen dann kirchliche Erneuerungsbewegungen, sich um benachteiligte Menschen zu kümmern. Heime und Werkstätten wurden errichtet, es entstanden ganze Städte in der Stadt wie Bethel in Bielefeld oder das Hamburger Alsterdorf. Behinderte wurden dort gefördert, begannen, in Werkstätten zu arbeiten. Doch gleichzeitig wurde die diakonische Arbeit weitgehend aus den Kirchengemeinden ausgegliedert. Noch heute bekommen viele Gemeinden wenig von der Arbeit der diakonischen Einrichtungen mit. Durch den gesellschaftlichen Durchbruch des Inklusionsgedankens tut sich nun die Chance auf, Diakonie stärker zurück in die Gemeinden zu holen.
Den Alltag in anderer Perspektive wahrnehmen
Eine Chance – oder vielmehr eine Pflicht. Denn die Bochumer evangelische Juristin Theresia Degener ist überzeugt: "Sonderwelten für Behinderte soll es nicht mehr geben". Nach der UN-Behindertenrechtskonvention, die Degener mit ausgearbeitet hat, dürften Sonderwelten wie Heime zukünftig keine staatlichen Gelder mehr erhalten. Für die Kirchen, die mit ihren Sozialverbänden in Deutschland die größten Träger von Behinderteneinrichtungen sind, wird das enorme finanzielle Einbußen bedeuten, warnte Degener bereits im vergangenen Jahr auf der Synode der rheinischen Landeskirche. Der anstehende Umbauprozess werde aber noch zögerlich angegangen.
Auch Jörg Stoffregen sagt: Kirche kann noch viel mehr tun, um barrierefreier zu werden. Als Leiter des Netzwerks "Kirche inklusiv" versucht er, Gemeinden die Sorgen vor dem Thema zu nehmen. "Wenn ich auf Pfarrkonvente oder in Kirchengemeinden gehe, bemerke ich immer wieder eine ablehnende Haltung. Viele denken: Inklusion – das soll ich jetzt auch noch machen?", erläutert der Diakon. Dabei bedeute Inklusion nicht mehr Arbeit, sondern den Alltag in anderer Perspektive wahrzunehmen und zu verändern.
Verändern muss sich aus Stoffregens Sicht auch die Gottesdienst-Kultur. "Wenn ich in 100 verschiedene Gottesdienste gehe, werde ich in 90 davon nicht wahrgenommen oder persönlich willkommen geheißen", sagt er. "Da werde ich zwar hinterher ins Kirchencafé eingeladen, aber da stehen dann doch wieder nur die Altbekannten zusammen." Das könne sich ändern. Gemeinden, empfiehlt der Diakon, sollen ihre Gottesdienste hinterfragen: "Ist das, was im Gottesdienst geschieht, nachvollziehbar und verständlich?" Ein Blinder wird sich in einem Gottesdienst, in dem non-verbales Handeln im Mittelpunkt steht, kaum aufgehoben fühlen.
Und nicht zuletzt fordern die Experten: Kirche soll rausgehen, dahin, wo die Menschen sind. "Warum soll der Gemeindegottesdienst von der Kirche nicht mal in ein Familienzentrum oder ein Wohnheim verlegt werden?", fragt Ulf Liedke. Dasselbe gelte für Gemeindehäuser: Nicht alle Gruppen müssten sich zwangsläufig dort treffen. "Das Grundthema der Gemeinde müsste Gastfreundschaft sein – und nicht Beheimatung", schreibt auch Diakon Martin Horstmann auf seinem Blog diakonisch.de. "Gemeindehäuser – oder überhaupt kirchliche Häuser – sollten nicht heimelich gemacht werden, sondern gastfreundlich. Und das bedeutet: multifunktional, barrierefrei, zielgruppenübergreifend." Für alle offen eben.