Wendland: Die Leute vergessen ihr Kirchturmdenken

Seelsorger bei einer Anti-Castor-Demo im Wendland
Foto: epd-bild / Karsten Strauss
Bei den Anti-Castor-Demos haben die Protestanten in Lüchow-Dannenberg gemerkt, wofür sie gebraucht werden: als Ansprechpartner und Schlichter für Demonstranten und Polizisten. Kirche ist für sie Beziehungsarbeit.
Wendland: Die Leute vergessen ihr Kirchturmdenken
Viel Fläche, kleine Gemeinden, zu wenige Pfarrer... In dieser Situation sagt der evangelische Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg: "Jetzt erst recht!" Superintendent Stephan Wichert-von Holten erklärt: "Wir entwickeln keine Strukturen mehr." Die Gemeinden, die sich zu Regionen zusammengeschlossen haben, fragen stattdessen nach Inhalten: "Wozu kann man uns brauchen?"

Im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg gibt es rund 30.000 Mitglieder in 35 Kirchengemeinden. Wieviele Gottesdienste feiern Sie sonntags – und wo finden die statt?

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Stephan Wichert-von Holten: Wir haben 37 Kirchen und Kapellen. Und wir schaffen es längst nicht mehr, in jeder Gemeinde Gottesdienst zu feiern. Richtiger wäre: Es ist nicht jeden Sonntag in jeder Kirche Gottesdienst, aber in jedem Gemeindeverbund. Ein Gemeindeverbund besteht bei uns aus mehreren Kirchengemeinden, und mehrere Gemeindeverbünde bilden eine Region. In der Regel sind drei Pastoren oder Pastorinnen und ein Regionaldiakon in einer Region. Und die sorgen gemeinsam mit Lektoren und Prädikantinnen für die Gottesdienstversorgung. Das klappt ganz gut, weil wir uns nicht mehr die Utopie erlauben, in jeder Gemeinde jeden Sonntag Gottesdienst stattfinden zu lassen.

Die Gemeinden haben sich bei Ihnen zu Verbünden und Regionen zusammengeschlossen, ohne zu fusionieren. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Arbeit so zu organisieren?

Wichert-von Holten: Aus blanker Not. Seit 1992 haben wir die Hälfte aller Pfarrstellen verloren, momentan haben wir nur noch 12. Wir sind ein sehr großer Kirchenkreis mit viel Fläche und vielen Dörfern – 346 Dörfer gibt es im Landkreis, das ist eine Menge! Es gibt zum Beispiel eine Kirchengemeinde mit 1300 Gemeindegliedern, die sich auf 50 Dörfer verteilen.

Wir haben wirklich keine andere Wahl mehr, als zusammenzukommen, und genau das ist das Grundelement. Zum einen waren wir gezwungen, uns Neues zu überlegen, zum anderen wollten wir diese Chance nutzen, Kirche gleich auch anders zu machen, so dass sie bei den Menschen bleiben kann - das ist unser großes Ziel. Bislang ist es uns geglückt, die Seelsorge vor Ort zu halten. Allerdings ist nicht mehr nur der einzelne Seelsorger, sondern das Seelsorgeteam einer Region in jeder Gemeinde bekannt. Da macht es mittlerweile auch wirklich nichts mehr, wenn der Gemeindepastor gerade Urlaub hat und es kommt einer von den anderen beiden und macht die Beerdigung. Ich merke: Die Leute vergessen ihr Kirchturmdenken. Sie denken mittlerweile als Region.

"Ich glaube, irgendwann mal werden wir als Kirche an der gedachten Überlastung zugrunde gehen und nicht an der tatsächlichen"

Wie gestaltet sich die Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer in den Regionen? Müssen die ständig hin und her fahren?  

Wichert-von Holten: Auch ein Gemeindepastor mit nur einem Kirchturm müsste bei uns ständig hin und her fahren, denn der hätte ja immer noch erklecklich viele Dörfer. Das ist so auf dem Land. Wenn Pastoren nicht unterwegs sind, sondern zu Hause sitzen, machen sie was falsch. Kirche muss unterwegs sein, denn Kirche ist Beziehungsarbeit. Pastorinnen müssen mit Leuten reden. Die Kommunikation des Evangeliums ist Beziehungsarbeit im Sinne Christi, und die müssen sie gemeinsam herstellen, also zusammenarbeiten.

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In den Regionen arbeiten sie wirklich als Teams. Das genießen sie sehr, denn sie können innerhalb dieser Teams ihren Urlaub untereinander absprechen, sie können mal auf eine Fortbildung fahren und das so gerecht verteilen, dass keiner stöhnt. Und wenn einer krank wird oder wir eine Vakanz haben, ist das in der Regel so, dass sich das Team vor Ort schon Gedanken gemacht hat, bevor der Superintendent – also ich – sage: "Da müssen wir mal drüber nachdenken", dann sagen sie: "Nee, nee, lass mal, wir regeln das."

Ich will aber nicht verschweigen, dass wir ganz schön auf Kante genäht sind, das heißt: Die Belastung der Hauptamtlichen und – was mir ganz wichtig ist – die Belastung der Ehrenamtlichen wird immer größer. Aber nur dann, wenn wir versuchen, Kirche so zu machen, wie wir sie kennen. Wir müssen versuchen, Kirche so zu machen, wie wir sie noch nicht kennen. Da sind wir gerade noch ein bisschen am Tüfteln. Eins geht jedenfalls nicht: Den Eindruck entstehen zu lassen: "Mensch, unser Pastor ist immer beschäftigt, der hat immer zu tun." Denn dann kommen Leute nicht mehr, dann überlegt jeder: "Oh, soll ich den jetzt noch anrufen?" Das wäre das Schlimmste überhaupt. Ich glaube, irgendwann mal werden wir als Kirche an der gedachten Überlastung zugrunde gehen und nicht an der tatsächlichen.

Welche Bedeutung haben die Ehrenamtlichen?

Wichert-von Holten: Das Wunderbare ist, dass mir Ehrenamtliche in einem Kirchenvorstand, und mag er noch so klein sein, sagen: "Ach, Herr Wichert-von Holten, lassen Sie mal, das regeln wir mit den Kollegen in den anderen Kirchenvorständen." Plötzlich sprechen die Ehrenamtlichen ganz erbaulich und auch ganz stolz davon, dass sie ja "Kollegen" im Kirchenkreis haben. Das hab' ich vorher noch nie gehört, denn sonst gibt es ja immer die "anderen" Gemeinden und natürlich sind immer alle ganz "anders" als wir, und "mit denen kann man ja gar nicht". Aber hier ist es so, dass in den Regionen mittlerweile wichtige Entscheidungshoheiten wie zum Beispiel Baufragen oder auch Kindergottesdienst oder Konfirmandenarbeit sich gar nicht mehr auf der Gemeindeebene abspielen, sondern auf der Regionalebene.

"Jesus Christus hat in den Wundergeschichten gefragt: 'Was soll ich für dich tun?' und nicht gesagt: 'Du, ich mach mal was für dich.'"

Was sind die inhaltlichen Schwerpunkte in Ihrem Kirchenkreis? Und wer legt die Inhalte fest?

Wichert-von Holten: Bevor wir über Inhalte sprechen muss ich sagen, warum wir über Inhalte sprechen. Wir sind 2009 aus der Strukturentwicklung ausgestiegen. Seit 1982 hatten wir Strukturen entwickelt, alles ausprobiert, sogar erfolgreich zwei Kirchenkreise zusammengelegt. Wir wissen, was funktioniert und was nicht, und wir wissen genauso, dass Strukturen ein Pflaster sind, das auf einem Pflaster klebt, das auf einem Pflaster klebt, das nicht mehr klebt. Also raus aus der Strukturentwicklung und rein in die Inhalte.

Im Wendland ist alles klein - wie die Kapelle in Bredenbock.

Wir sind gerade dabei, eine neue Beauftragungskultur für die Kirchengemeinden zu entwickeln. Leitsatz dabei ist: "Wozu sind wir als Kirchengemeinde vor Ort in Gottes und in Christi Namen gut?" Wir fragen also nicht: "Was muss man tun, was soll man lassen?" Sondern: "Wozu kann man uns brauchen?" Die Jugendlichen und die Erwachsenen wollen eine brauchbare Kirche. Zum Beispiel eine Kirche zum Gespräch, eine Kirche, die sichtbar ist, übrigens auch im Internet. Diese Frage entlastet die Strukturen vor Ort durch Inhalte. Wir erfinden deswegen nicht das Christentum neu, sondern wir erinnern uns daran, was wir von Christus gelernt haben und versuchen das mit möglichst einfachen Mitteln umzusetzen. Auch das ist Beziehungsarbeit.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wichert-von Holten: Es ist zum Beispiel absolut blödsinnig, im Gemeindehaus einen Kreis anzubieten, wo sich Alleinerziehende einmal in der Woche treffen. Blödsinnig deswegen, weil niemand so mit der Zeit haushalten muss wie Menschen, die alleinerziehend sind. Wenn eine Gemeinde dann merkt: "Das ist keine gute Idee, denn die Menschen kommen nicht und wir sind eine Last für sie", und fragt: "Wozu sind wir gut?", dann geht es um Inhalt. Jesus Christus hat in den Wundergeschichten gefragt: "Was soll ich für dich tun?" und nicht gesagt: "Du, ich mach mal was für dich." Dann kommen sie relativ schnell als Kirchengemeinde auf die Idee, Besuche anzubieten und Menschen, die allein erziehen, einen freien Nachmittag zu schenken.

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Indem sie auf die Kinder aufpassen?

Wichert-von Holten: Zum Beispiel. Und sie bringen noch ein Kaffeekörbchen mit, dann kann man noch miteinander klönen. Ohne dass sie vorher einen Hintergedanken hätten, ermöglicht dieser Besuch dann, dass eine junge Frau oder ein junger Mann auch mal ihr Herz ausschütten kann - einfach, weil Kirche kommt und Menschen zuhören wollen. Das ist eine viel bessere Arbeit, das ist Inhalt. Sowas können Strukturen nicht planen, sowas müssen wir einfach machen. Und dieses "einfach machen", das ist glaub' ich das große Talent dieses Kirchenkreises. Die Menschen hier suchen Lösungen. Hier wird nicht gejammert und nicht auf Hilfe gewartet von wer weiß wo.