Sie haben zwei Migranten auf ihrer Flucht begleitet und die Eindrücke gefilmt. Das Ergebnis ist die Dokumentation "Fremd". Nun haben Sie Ihre Erlebnisse aufgeschrieben, "2850 Kilometer" ist erschienen. Wie kam es dazu?
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Miriam Faßbender: Ursprünglich wollte ich in Mali, im Ort Gao, drehen, durch den viele Migranten aus unterschiedlichen Ländern durchreisen müssen. Sie sammeln sich dort vor der Wüste, bevor sie die Sahara durchqueren. Ich wollte verstehen, warum es ihnen nicht möglich ist, in ihren Heimatländern zu leben. Sie zirkulieren vor Europa, teilweise Jahre lang. Das hat mich überrascht. Ich hatte auch nach Flüchtlingen gesucht, die auf dem Rückweg in ihre Heimatländer sind; zudem jemanden, der nach Europa möchte und schon einmal dort war; jemanden, der zum ersten Mal dorthin unterwegs ist, und: eine Frau sollte auf jeden Fall dabei sein. Dann habe ich in Mali Mohamed, einen meiner beiden Protagonisten kennen gelernt. Er wollte eigentlich nicht weg aus Afrika, sondern wurde von seiner Familie weggeschickt, um Geld zu verdienen. Diese Widersprüchlichkeit hat mir gefallen. Und ich habe beschlossen, ihn auf seinem "Abenteuer" - wie er seine Reise selbst nennt - wieder zu treffen.
In Nordafrika, im Maghreb erlebten Sie einen extremen Rassismus gegenüber den Migranten aus der Subsahara. War Ihnen das bewusst?
Faßbender: Der Rassismus ist wirklich enorm, da werden die "tranquilos", die Flüchtlingsunterkünfte, kaltschnäuzig abgebrannt. Das hat mich sprachlos gemacht, vor allem, weil ich als Europäerin ganz anders behandelt wurde. Die europäische Politik ist an dieser Situation nicht unschuldig: Europa zahlt Gelder an Marokko, Algerien, Ägypten oder Tunesien - offiziell, um Grenzen zu schützen oder schließt undurchsichtige Abkommen mit deren Autokraten ab. Das heizt den Rassismus an, weil diese Länder mit dem Geld eher den Tourismus fördern. Und: Es führt zu Konkurrenz der Länder untereinander, Flüchtlinge werden hin und her geschoben an den Grenzen. Noch dazu gibt es in Nordafrika wenig Arbeit, und das Geld kommt weder bei der Bevölkerung noch bei den Migranten an.
"Es war von Vorteil, als Frau unterwegs zu sein"
Haben Sie noch Kontakt mit Mohamed und Jerry, die Sie begleitet haben?
Faßbender: Mohamed hat in Mali seinen Busführerschein gemacht und gearbeitet, aber zu seiner Familie zurückgekehrt ist er nicht. Zuletzt lebte er wieder in Gao, wo wir uns kennengelernt haben, einem der Orte, in dem die Dschihadisten die Scharia etablieren wollten. Daraufhin wurde unser Kontakt unregelmäßiger, weil die Internetcafés geschlossen wurden. Dann intervenierte dort die EU und Mohamed wollte versuchen, dort wegzukommen. Das letzte Mal habe ich im Oktober 2013 von ihm gehört, kein gutes Zeichen.
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Jerry geht es wohl nicht gut, sein Aufenthaltsstatus in Europa ist nicht geklärt und er kämpft mit der Bürokratie. Ich weiß nicht, ob es für ihn von Vorteil war, dass er es geschafft hat. Während meiner Zeit mit den Migranten habe ich mit mir gehadert: Soll ich ihnen erzählen, dass es in Europa erstmal schwierig wird für sie? Sie hoffen, dass es hier alles besser wird. Aber eine U-Bahn-Fahrt, selbst Wasser oder öffentliche Toiletten kosten hier etwas. Das ist für viele ungewohnt. Oder dass sie zum Arbeiten eine Genehmigung - ein Papier! - benötigen.
Sie haben Polizeikontrollen erlebt, Razzien in Flüchtlingsunterkünften, gerieten in manch unangenehme oder unsichere Situationen. Hatten Sie unterwegs Angst?
###mehr-info### Faßbender: Auf die Polizeikontrollen war ich mental vorbereitet. Einmal wurden Mohamed und Jerry zusammen geschlagen – da war ich mir nicht sicher, in welche Richtung sich die Situation entwickeln würde. Da war es mein Vorteil, eine Frau, "ein schwächeres Wesen" zu sein – einen Mann hätten sowohl die anderen Migranten als auch die Polizisten anders behandelt. Ich habe immer darauf geachtet, dass das Goetheinstitut oder NGOs informiert sind, wo ich unterwegs bin. Aber in erster Linie habe ich mich auf den Rat von Mohamed und Jerry verlassen, sie konnten die Situationen am besten einschätzen. Vertrauen konnte ich aufbauen, indem ich ihnen mein bereits gedrehtes Material gezeigt habe. Dass ich immer wieder zurückkam, nachdem ich in Deutschland war, hat sie von dem Projekt überzeugt.
Es scheint, als hätten Sie fast nur Männer unterwegs getroffen. Waren auch Frauen unter den Flüchtlingen?
Faßbender: Ja, ich schätze, etwa drei Prozent der Flüchtlinge sind Frauen. Sie haben es wesentlich schwerer. Viele prostituieren sich, deshalb können sie schneller unterwegs sein, weil sie dadurch mehr Geld verdienen. Manche Frauen gehen Zweckpartnerschaften ein: Die Männer übernehmen eine Art Beschützerrolle, im Gegenzug kochen und waschen die Frauen. Ich glaube, diese stereotypen Konstellationen sind für Frauen auf der Flucht noch am erträglichsten – sie haben jemanden, der sie notfalls gegen andere verteidigt.
Was hat diese Erfahrung, die Arbeit an "Fremd" und "2850 Kilometer", mit Ihnen gemacht?
###mehr-links### Faßbender: Vor Ort war ich sehr damit beschäftigt, die Situation kurzfristig zu verstehen. Mich beschäftigt, wie die Migranten auf ihrer Flucht gezwungen sind zu leben. Und dass sich die Situation für sie nicht bessert, je näher sie Europa kommen – sie verschlimmert sich nur noch. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Flüchtlinge anfangen sich gegenseitig abzuziehen. Es weckt meine Wut und meine Scham darüber, wie Menschen in meinem Alter aufgrund unserer Politik gewzungen sind zu leben. Seit ich wieder zuhause bin, weiß ich unseren Luxus noch mehr zu schätzen, unser Gesundheitssystem, unsere Bildungsmöglichkeiten, die geringen Sozialleistungen. Mein Lebensstil ist wesentlich minimalistischer als vorher, ich kann gut auf Materielles verzichten.
Am Sonntag wählt Europa ein neues Parlament. Glauben Sie, es könnte sich etwas ändern?
Faßbender: Ich hoffe, dass Europa es schafft, eine sozialere Asylpolitik zu betreiben und nicht an der Drittstaatenregelung festhält. Natürlich wäre es schön, wenn Frontex oder Eurosur abgeschafft würden, aber das sehe ich noch nicht. Ein erster Schritt wäre es, die Grenzen zu öffnen. Es ist keine Masse, die Europa stürmt. Nur etwa ein Drittel der afrikanischen Migranten, die in ihren Heimatländern aufbrechen, kommt nach Europa. Es geht nicht, dass Rohstoffinteressen in Zentralafrika verfolgt werden, Kriege befeuert werden, aber dass die Flüchtlinge hier nicht aufgenommen werden – das geht nicht. Gut finde ich es, dass viele kirchliche Einrichtungen Flüchtlinge in vielerlei Form unterstützen. Aber die Politik darf ihre Verantwortlichkeit nicht auf die Kirche abschieben.