Kirchenasyl: Widerstand gegen unmenschliche Gesetze

Kurdische familie in einer Oberhausener Kirche
Foto: epd-bild/Netzhaut
Mit einem "Wanderkirchenasyl" protestierte diese kurdische Familie 1999 gegen ihre Abschiebung in die Türkei. Hier schlafen Mutter und Kinder in der evangelischen Lutherkirche der Gemeinde Buschhausen in Oberhausen.
Kirchenasyl: Widerstand gegen unmenschliche Gesetze
Immer mehr Kirchengemeinden in Deutschland bieten Flüchtlingen Unterschlupf. Momentan gibt es rund 90 Fälle von Kirchenasyl, Tendenz steigend. Die Gemeinden handeln in einer rechtlichen Grauzone – und aus Nächstenliebe.

"Ich komme gar nicht hinterher mit dem Beantworten von E-Mails und mit den Beratungen", sagt Genia Schenke Plisch von der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" in Berlin. Sie kümmert sich erst um die Rat suchenden Kirchengemeinden, bevor sie die Statistik aktualisiert. Das bedeutet: Die Zahl der Kirchenasyle, die auf der Website der BAG für Mai 2014 mit 87 angegeben ist, hat sich schon überholt. Es sind mehr. Im April gab es 60 Kirchenasyle in Deutschland, im Januar nur 34. Bei der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Dublin-Flüchtlinge – also um Menschen, die über ein anderes europäisches Land nach Deutschland eingereist sind und nur dort Asyl beantragen dürfen.

Evangelische und katholische Christen tun sich schwer, das europäische Asylrecht zu akzeptieren. Sie handeln aus Nächstenliebe, wenn sie Flüchtlinge in ihren Räumen aufnehmen. Und sie nehmen große Anstrengungen auf sich. Denn die Flüchtlinge riskieren ihre Abschiebung, sobald sie die Kirche, das Pfarrhaus oder Gemeindezentrum verlassen. Also müssen Gemeindeglieder für sie einkaufen, Behördengänge erledigen, Ärzte finden, die bereit sind, zu kommen – und während der Zeit des Kirchenasyls zudem auf einen Teil ihrer Gemeinderäume verzichten. Doch viele Gemeinden machen die Erfahrung, dass das Engagement sich lohnt – nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für den Zusammenhalt der Gemeinde und das Gefühl, gemeinsam etwas geschafft zu haben.

Mittelalter: Sogar Verbrecher bekamen Kirchenasyl

Der Auftrag an Christen, gastfreundlich zu sein, findet sich in der Bibel im Alten und im Neuen Testament: "Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen", steht in 3. Mose19,33f, und Jesus bekräftigte dieses Gebot in seinem Auftrag zur Nächstenliebe in Matthäus 25,35: "Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen."

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Kirchenasyl, oder vielmehr: religiös begründetes Asyl in sakralen Räumen gab es schon zu alttestamentlicher Zeit. Tempel waren Orte, an denen keine Gewalt ausgeübt werden durfte, dadurch waren sie sichere Schutzräumen für verfolgte Menschen. Das galt auch im antiken Griechenland, wo das Wort "Asyl" seinen Ursprung hat: Das Rauben von Sachen oder Personen hieß "sylon", die Vorsilbe "a" bedeutet die Verneinung. "Asylon" heißt also wörtlich "nicht beraubt" und bezeichnete den Ort, an dem etwas oder jemand vor Raub sicher war. Auch bei den alten Germanen waren heilige Stätten zugleich Schutzorte – das Prinzip ist aus mehreren Kulturen bekannt.

Im Mittelalter wurden zum Teil konkrete Personenkreise genannt, für die der Sakralschutz gelten sollte: zum Beispiel für Mörder, Ehebrecher oder Diebe – also explizit für Verbrecher. Das Kirchenasyl im Mittelalter beruhte auf der starken Stellung der Kirche. Als die Kräfteverhältnisse sich zu Beginn der Neuzeit verschoben und die Staaten sich als politische und juristische Macht von der Kirche emanzipierten, wurde die staatliche Anerkennung des Kirchenasyls in Europa nach und nach aufgegeben (zuerst in Schweden 1528, zuletzt in Sachsen 1827).

Waldbröl 2011: Presbyterium wurde angeklagt

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte das Instrument des Kirchenasyls weltweit eine Renaissance. Höhepunkt war das so genannte "Sanctuary Movement" in den USA in den 1980er Jahren: Dort nahmen Kirchen mexikanische Einwanderer auf, die von den Behörden massenweise abgelehnt wurden. In Deutschland gilt die Beherbergung einer Gruppe von Palästinensern in der Berliner Heilig-Kreuz-Gemeinde im Jahr 1983 als das erste Kirchenasyl der Neuzeit.

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Ursache für das Aufleben des Kirchenasyls in Deutschland war das Inkrafttreten des Asylverfahrensgesetzes im Jahr 1982, das für Flüchtlinge eine Verschärfung bedeutete. Die Kirchenasylbewegung entwickelte sich auch aus der Protestkultur dieser Zeit: Der ehemalige Bundestagspräsident und gläubige Katholik Wolfgang Thierse (SPD) bezeichnete das Kirchenasyl in einem Interview als "die Fortsetzung der Friedensbewegung mit anderen Mitteln". Im Jahr 1993 wurde das Asylrecht in Deutschland erneut eingeschränkt: Zwar genießen politisch Verfolgte laut Artikel 16 GG grundsätzlich Asylrecht, doch es gilt nicht für diejenigen, die aus einem so genannten "sicheren Drittstaat" eingereist sind.

Im Zuge der aktuellen Krisen und Kriege auf der Welt suchen immer mehr Menschen Zuflucht im reichen Europa. Von denen, die in einem Kirchenasyl Schutz finden, stammten 2013 die meisten laut der Bundesarbeitsgemeinschaft aus Tschetschenien, Syrien, Afghanistan und Äthiopien. Der Zweck eines Kirchenasyls ist Zeitgewinn: Während die Flüchtlinge in der Kirche sicher wohnen, laufen zum Beispiel Fristen ab, während denen die Menschen abgeschoben werden können. In anderen Fällen können Härtefallanträge gestellt und Gespräche geführt werden. So dauern manche Aufenthalte in der Kirche oder im Gemeindehaus nur wenige Tage, andere erstrecken sich über Jahre.

Gemeinden, die sich auf ein Kirchenasyl einlassen, bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone. Ob das Kirchenasyl als gesetzeswidrig eingestuft werden muss, ist umstritten. "Was wir getan haben, war nicht legal, aber legitim", so brachte es Pfarrer i.R. Horst Oberkampf am 9. April 2006 in der Evangelischen Christuskirche in Bad Schussenried (Baden-Württemberg) auf den Punkt. Seine Gemeinde hatte einer Familie fünf Jahre lang Kirchenasyl gewährt. In Waldbröl (NRW) gerietdie evangelische Kirchengemeinde vor drei Jahren in einen Zwiespalt zwischen Glaube und Gesetz: Sieben Mitglieder des Presbyteriums wurden angeklagt, weil sie eine armenische Familie vor dem Zugriff der Behörden geschützt hatten - das Verfahren wurde dann aber eingestellt.

Dinklage 1997: Nonnen blockierten die Einfahrt

Die Behörden könnten Polizei in Kirchenräume schicken, um die Menschen herauszuholen und abzuschieben. In den allermeisten Fällen tun sie das jedoch nicht – offenbar scheuen sich auch Beamte, gewaltsam in sakrale Räume einzudringen. Fälle wie der im Februar 2014 in Augsburg sind die Ausnahme: Dort holte die Polizei eine tschetschenische Frau und ihre vier Kinder aus einem katholischen Pfarrhaus heraus. Die Familie wollte in dem Kirchenasyl die Frist überbrücken, innerhalb der sie wieder ins "sichere Drittland" Polen abgeschoben werden konnte.

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Spektakulär war auch der Fall im Jahr 1997 im niedersächsischen Dinklage: Dort hatte eine ukrainische Familie in einer Benediktinerinnenabtei Zuflucht gefunden. Die Polizei drang in das Kloster ein und verhaftete den Familienvater. Die übrigen Familienmitglieder konnten nicht abtransportiert werden, weil 20 Nonnen sich auf die Zufahrt setzten und weitere Polizeikräfte stoppten. Später erreichten die Nonnen durch beharrliches Verhandeln sogar die Freilassung des Familienvaters.

Wer als Äbtissin eines Klosters oder Verantwortlicher einer Kirchengemeinde Menschen im Kirchenasyl beherbergt, muss viel Mut aufbringen – erntet aber in der Regel auch Anerkennung. So bedachte die Gottesdienstgemeinde in der katholischen Kirche "Zum Guten Hirten" in Augsburg ihren Pfarrer Siegfried Fleiner im Jahr 1997 mit langem Applaus, als er ankündigte, die Familie Akgüc aus der Türkei werde ab jetzt im Pfarrhaus wohnen. Das Elternehepaar Akgüc blieb fast fünf Jahre. Pfarrer Fleiner bekam für sein Engagement später einen Preis und fasste bei der Verleihung seine Auffassung von christlicher Verantwortung so zusammen: "Widerstand gegen unmenschliche Gesetze muss auch heute noch möglich sein."

(Dieser Artikel basiert auf einer ursprünglichen Fassung von September 2011 und wurde im Mai 2014 aktualisiert.)