Über die Lage seines Landes könnte Nigerias Präsident Goodluck Jonathan in den sozialen Netzwerken vermutlich noch einiges lernen. Dort läuft die internationale Online-Kampagne #BringBackOurGirls auf Hochtouren, für die selbst die US-amerikanische Präsidentengattin Michelle Obama ein Foto von sich postete. Es geht um das Schicksal der mehr als 240 Schülerinnen, die Mitte April im Nordosten Nigerias von Mitgliedern der Terrorgruppe Boko Haram entführt wurden. Ob sie alle noch in der Hand ihrer Kidnapper sind und wo sich die Gruppe befindet, ist auch nach der Veröffentlichung eines Bekennervideos unklar.
Schon vor einer Woche hatte Jonathan im Fernsehen erklärt, er sei glücklich darüber, dass die entführten Schülerinnen unversehrt seien. Weil es für diese Behauptung keine Grundlage gab, war die Empörung groß. Die Informationspolitik der Regierung in dem Fall ist katastrophal. Und das nicht nur aus bösem Willen, meint der Nigeria-Experte Heinrich Bergstresser. Der aus dem prosperierenden Süden stammende Jonathan habe keine Vorstellung vom rückständigen und verarmten Norden. Der Norden sei für ihn eine andere Welt, mit der er nichts zu tun haben wolle. Stattdessen delegierte er das Problem an seine Berater und das Militär. Weil offensichtlich ist, dass die Regierung die Mädchen nicht befreien kann, haben die USA, Großbritannien und Frankreich Terrorspezialisten nach Nigeria entsandt.
Mehr als die Hälfte der jungen Leute hat keine Arbeit
Vor rund einem Jahr verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über den Nordosten des Landes, das Kerngebiet von Boko Haram. Trotzdem nimmt die Gewalt weiter zu. Unter den verarmten jungen Menschen im Norden Nigerias hat die zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörende Gruppe durchaus Zulauf. Der Name der Gruppe heißt übersetzt etwa "Westliche Bildung ist verboten". Die Miliz macht seit 2009 mit blutigen Anschlägen auf Regierungseinrichtungen, Kirchen und Moscheen von sich reden. Sie hat seitdem Tausende Menschen getötet, allein in diesem Jahr sollen es schon etwa 1500 sein.
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Dass die Regierung den Norden Nigerias seit Jahren vernachlässigt, gehört zu den Hintergründen der Gewalt. Während der Süden Nigerias immerhin etwas von den Erdöl-Einnahmen profitiert, ist die Lage im Norden trist. Teile gehören schon zur trockenen Sahelzone am Rand der Sahara. Wer dort geboren ist, weiß, dass er praktisch keine Zukunft hat. Mehr als die Hälfte der jungen Leute hat nach offiziellen Zahlen keine Arbeit.
Nigeria stand jahrzehntelang unter Militärdiktatur. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1999 unterstützten viele Nordnigerianer muslimische Politiker. Sie hofften, dass diese einer islamischen Gerechtigkeit verpflichtet seien und die verzweifelte Lage der Bevölkerung verbessern würden. Doch die Hoffnung trog. In zwölf Bundesstaaten im Norden führten zwar Gouverneure das islamische Recht, die Scharia, ein - aber sie bereicherten sich genauso wie ihre Vorgänger. An der Armut änderte sich nichts.
Entführung unter den Augen des Militärs
In diesem hochgradig korrupten System klingt es für viele wie ein Heilsversprechen, wenn Boko Haram die Rückkehr zum "wahren Islam" fordert. Die Anhänger träumen von einem transparenten und gerechten Staat, der in ihren Augen nach dem Scheitern des säkularen Systems nur islamisch begründet sein kann.
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Dabei werde Boko Haram unter der Hand von lokalen und regionalen Politikern unterstützt, meint Nigeria-Kenner Bergstresser. Die steigende Präzision der Anschläge und Angriffe, zu denen sich die Miliz zuletzt bekannte, gilt außerdem als Indiz für die Kontakte der Gruppe zum Geheimdienst und anderen staatlichen Stellen. Wie sonst, fragt die Bevölkerung, konnte die Gruppe praktisch unter den Augen des Militärs 276 Mädchen aus einer Schule entführen?
Während die Armee offensichtlich unfähig ist, die Bürger im Norden des Landes vor Angriffen der Terrorsekte zu schützen, berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder auch von Übergriffen der nigerianischen Armee und anderer Sicherheitskräfte auf die Bevölkerung. Seit die Regierung den Ausnahmezustand über den Nordosten des Landes verhängte, haben unabhängige Beobachter kaum noch Zugang. Wer genau welche Verbrechen an den unbewaffneten Menschen verübt, kann fast niemand überprüfen.