Jan Karski, der Spion im Konzentrationslager

Foto: laif/Max Hirshfeld/Redux
Jan Karski, der Spion im Konzentrationslager
Spionage im KZ, Informationsbeschaffung im Warschauer Ghetto, Dokumentenschmuggel für den Widerstand: Jan Karski gilt als einer der wichtigsten Beobachter des Holocaust. Der polnische Katholik behielt seine Erlebnisse lange für sich. Aber seine Erzählungen zeigen das Grauen der Vernichtung hautnah.

"Mir schien, dass die gesamte Bevölkerung des Ghettos auf den Straßen lebte. Kaum ein Quadratmeter freie Fläche war zu sehen. Überall herrschte Hunger und man konnte das Unglück spüren, in der Luft hing der abscheuliche Gestank sich zersetzender Leichen, zu hören war das klagende Stöhnen sterbender Kinder, die verzweifelnden Schreie und Seufzen von Menschen, die sich trotz allem krampfhaft am Leben hielten."

Diese eindrückliche Beschreibung hielt Jan Karski im Sommer 1942 über das Warschauer Ghetto fest. Es war einer der ersten Augenzeugenberichte von der deutschen Vernichtungspolitik in Polen, die Großbritannien und die USA erreichte.

Heute gilt Jan Karski als "der Mann, der den Holocaust stoppen wollte". Er selbst sah seine Mission als gescheitert an und betrachtete auch die Anerkennung, die er an seinem Lebensabend erfuhr, mit viel Skepsis. "Ich kann nicht behaupten, dass der Zweite Weltkrieg durch meine Reisen und Berichte fünf Minuten früher aufgehört hatte", meinte er kurz vor seinem Tod im Jahr 2000.

Karski wäre am 24. April 100 Jahre alt geworden. Sein Geburtstag wird vor allem in Polen und den USA gefeiert.

Deckname: Karski

Geboren 1914 als Jan R. Kozielewski in einer traditionell katholischen und kleinbürgerlichen Familie, wuchs er in der Vielvölkerstadt Lodz auf und lernte dort die Offenheit anderen gegenüber. Der fremdsprachenbegabte und analytisch denkende junge Pole wollte schon als Schüler Diplomat werden - ein Wunsch, der sich kurz vor Kriegsbeginn erfüllte.

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Auf Fotos aus den 30er Jahren sieht man einen selbstbewußten Mann mit durchdringenden Blick. Als Offizier geriet er im Herbst 1939 kurz in sowjetische Gefangenschaft, konnte fliehen und arbeitete erneut als Diplomat – ab da aber im Untergrund. Als Kurier hielt er den Kontakt zwischen der polnischen Exilregierung in London und dem "Untergrundstaat" im deutsch besetzten Polen aufrecht. Der Name "Jan Karski" kommt aus dieser Zeit: Es war einer seiner Decknamen.

Seine Aufgabe war gefährlich. An der Grenze zur Slowakei 1940 wurde er bei einem Botengang von der Gestapo abgefangen und gefoltert. Partisanen halfen ihm schließlich bei der Flucht aus einem polnischen Krankenhaus. Als Vergeltung für seine Flucht erschossen die deutschen Besatzer 32 Polen. Die Schuldgefühle belasteten Karski bis an sein Lebensende.

Aber seine wichtigste Rolle sollte noch kommen. Im Sommer 1942 sprachen ihn Vertreter des jüdischen Bundes, der Jüdischen Kampforganisation (ZOB) und der Zionisten an. Sie baten Karski, den Allierten, den Juden im Westen Europas und in den USA sowie der polnischen Exilregierung über die Vernichtung der Juden in Polen zu berichten, die von den deutschen Besatzern systematisch betrieben wurde. Denn im August 1942 hatte die Deportation der Warschauer Juden in das nahe gelegene Vernichtungslager Treblinka begonnen.

Der Spion im Konzentrationslager

Zusammen mit Leon Feiner schmuggelte sich Karski durch einen Tunnel in das abgesperrte Warschauer Ghetto. Unrasiert, mit abgetragener Kleidung und einem Judenstern als Tarnung sammelte Karski seine Eindrücke aus dem abgeriegelten Gebiet. "Merken sie sich dies, merken sie sich das", murmelte Feiner bei dem Gang durch das Ghetto, in dem er "lebende Leichen" sah. Karski wurde Zeuge, wie ein Hitlerjunge einen Mann "aus Jux" erschoss. Weil er seinen Sinnen nicht traute, stattete Karski dem Ghetto einen weiteren Besuch ab, um seine Beobachtung des Grauens zu bestätigen.

Es blieb nicht die einzige gefährliche Mission. Auf Betreben Feiners betrat Karski auch ein Konzentrationslager, das sogenannte Zwischenlager Izbica Lubelska im Osten des "Generalgouvernement Polens". Verkleidet in der Uniform eines bestochenen ukrainischen Wachmanns sah er einen Tag lang zu, wie Juden, die aus der Tschechoslowakei ankamen und teils ermordet, teils beraubt und in die Wagons gepfercht wurden, die sie in das Vernichtunglager Belzec bringen sollten.

Mit einem langen Bericht über die Verbrechen der deutschen Besatzer an den Juden in Polen machte sich der Kurier dann auf die Reise in den Westen. Er trug einen deutschen Befehl zur Zwangssräumung eines Teil des Warschauer Ghettos, Informationen über das Vernichtungslager Belzec und über Aktionen der polnischen Heimatarmee auf Mikrofilm bei sich, versteckt in einem Schlüssel.

In Warschau ließ sich Karski mehrere Zähne ziehen und reiste ihn deutschen Regionalbahnen mit geschwollener Backe. Es war seine Ausrede, nicht sprechen zu müssen, denn sein Akzent hätte ihn verraten. Über Vichy-Frankreich, Spanien, Gilbraltar erreichte er schließlich Großbritannien, um sich mit dem britischen Außenminister und der polnischen Exilregierung zu treffen. Diese riet ihm, seine Berichte auch ihn den USA zu zeigen. Dort empfingen ihn Staatspräsident Franklin D. Roosevelt, dazu weitere Politikern, Geistliche, Schriftsteller sowie Hollywoodgrößen.

Karskis Belege bleiben vergebens

Karski hat neben den Berichten und Fakten auch die Aufforderungen an die Alliierten dabei, die ihm die jüdischen Organisationen in Polen mitgegeben haben: Stellt ein Ultimatum an Deutschland, bombardiert deutsche Städte und die Bahnlinien zu den Konzentrationslagern, versorgt die Partisanen in Polen mit Waffen, öffnet die Grenzen für fliehende Juden aus den deutsch besetzten Gebieten und gebt ihnen Pässe.

Das Interview mit Jan Karski in "Shoah" (1985)

Doch Karski, der im Judenghetto seinen eigenen Augen nicht traute, erlebt nun, dass man ihm nicht glaubt, mit Misstrauen und Schweigen begegnet. Die Allierten haben bereits Informationen über die Vernichtungspolitik, wollen aber noch nicht eingreifen; ein Thema, das noch heute für viel Spekulationen und Debatten sorgt.

In aller Hast schreibt Karski, der seinen Decknamen nun offiziell annimmt, ein Buch: "Story of a Secret State" beschreibt den polnischen Widerstand im besetzten Polen und die Verbrechen an den Juden. Seine Beschreibungen sind genau und eindringlich. Der Titel kommt noch im Juni 1944 in Amerika auf den Markt und findet reißenden Absatz, auch nachdem die deutsche Vernichtungspolitik in Osteuropa in der US-Öffentlichkeit bereits bekannt war.

"Die Wahl, Gutes oder Böses zu tun"

Doch enttäuscht von der Reaktion der Politik auf seine Informationen entschließt sich Karski demonstrativ, nicht mehr über seine Erlebnisse zu sprechen. Auch als Dozent an der Georgetown-Universität in Washington für Außenpolitik und Osteuropa hält er sich daran. Seine pragmatischen Analysen der Politik sind aber geprägt von der gleichen Kaltblütigkeit, die ihn in gefährlichen Situationen rettete.

Erst 1978 bricht er sein Schweigen über die Vergangenheit. "Sie sind schon alt, bald sterben Sie. Ihre Pflicht ist, zu reden", mit diesen Worten überzeigt der "Shoah"-Regisseur Claude Lanzmann davon, seine Erinnerungen auf Film zu bannen. Karski wird so einer größeren Öffentlichkeit bekannt. In Israel wird er 1982 als "Gerechter unter den Völkern" geehrt.

Erst 1999 erschien sein Buch in Polen, 2011 in Deutschland. "Mein Bericht an die Welt", so der deutsche Titel, ist noch während des Krieges geschrieben worden und enthält - typisch für Karski - sehr deutliche Worte an die deutsche Adresse. "Karski hat erst an seinem Lebensende Deutschland anders gesehen" meint Ewa Wierzynski, die das "Jan-Karski-Jahr" in Polen leitet. Für sie ist der katholische Untergrund-Diplomat, der zeitlebens glaubte, Gott habe den Menschen die Wahl gegeben, Gutes oder Böses zu tun, bis heute ein Vorbild: "Er lehrt uns die Empfindsamkeit für das Leid anderer und die Pflicht, nicht einfach wegzuschauen."