Herr Dabrock, was halten Sie von der Entscheidung der EKD?
Dabrock: Einerseits habe ich Verständnis dafür und andererseits bedaure ich es. Ich habe Verständnis, wenn ich mir vor Augen führe, dass der Rat der EKD natürlich keine Zerwürfnisse möchte – und die hätte es auf jeden Fall gegeben. Andererseits wäre ein klares Wort der Kirchenleitung zum inklusiven Umgang mit Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung wünschenswert gewesen. Und ich habe den Eindruck, dass es die Menschen auch interessieren würde, was die Kirche zum Thema Sexualität zu sagen hätte.
###mehr-personen###Vorgaben oder Verbote wie in der katholischen Kirche kennen die Protestanten in Deutschland nicht. Warum äußert sich die EKD nun überhaupt zur Sexualität?
Dabrock: Noch vor etwas mehr als 40 Jahren hat auch die evangelische Kirche den Leuten sehr genau gesagt, wie ein richtiges und gutes Leben aussehen sollte. In den 1990 Jahren hat sie sich in der Orientierungshilfe "Mit Spannungen leben“ klipp und klar dagegen ausgesprochen, dass einer verlässlichen homosexuellen Partnerschaft die gleiche Würdigkeit zuerkannt wird wie der Ehe.
Sie finden das problematisch?
Dabrock: Da haben wir schon Nachholbedarf. Erst in etwas mehr als der Hälfte der evangelischen Landeskirchen sind öffentliche Segnungsgottesdienste möglich. Um den Unterschied zwischen Trauung und Segnung wird ein theologischer Eiertanz veranstaltet, der den Unterschied zwischen hetero- und homosexuellen Paaren verfestigen soll. Wir sind weit davon entfernt zu sagen: Auf evangelischer Seite ist alles gleichgültig, aber auch weit entfernt, dass alles gleichwürdig ist.
"Gebotsnormen von vor 2.000 Jahren nicht unkritisch nachplappern"
Alle Christen berufen sich auf die Bibel. Aber sie legen sie, was Homosexualität betrifft, sehr unterschiedlich aus. Können Sie das erklären?
Dabrock: Auf die Bibel kann man sich immer berufen. Und das ist aus evangelischer Sicht erst einmal ein richtiges Vorgehen. Aber dann muss man offenlegen, welche Schlüssel man hat, um sie auszulegen. Ich glaube, dass der Schlüssel, der mehrheitlich in der wissenschaftlichen Theologie verwendet wird, der angemessene ist: Aus der Fülle der biblischen Texte behalten diejenigen eine systematische Bedeutung, die den Glauben zentral zum Ausdruck bringen. Luther beispielsweise schrieb, man solle sich daran orientieren, "was Christum treibet“. Das bedeutet für das Glaubensleben, sich primär am Doppelgebot der Liebe zu orientieren. Das heißt unter anderem, den Anderen zu achten, auch in all seiner Begrenztheit – deshalb darf man nicht irgendwelche antiquierten Gebotsnormen von vor 2.000 Jahren heute kontextlos und unkritisch nachplappern.
Geht in der Frage der Homosexualität ein Riss durch die evangelische Kirche?
Dabrock: Ich würde die Metapher des Risses nicht überstrapazieren; aber dass es Spannungen gibt, ist deutlich. Die Kirchenleitungen sollten sich so positionieren, dass deutlich wird: Sexuelle Orientierung ist eine integraler Teil einer Person, die in ihrem leiblichen So-Sein Würde und Achtung verdient; letztere endet, wenn jemand andere mit seiner oder ihrer sexuellen Orientierung schadet. Die Würde jedes Menschen zu verteidigen gehört zum theologisch-ethischen Kernbestand des christlichen Glaubens in der Gegenwart. Sich dafür einzusetzen, halte ich nicht nur für sinnvoll: Das halte ich für geboten.
Dem Papier zu Ehe und Familie wurde der Vorwurf gemacht, dass sich die Kirche dem Zeitgeist andient.
Dabrock: Das Zeitgeist-Argument ist doch eine leicht durchschaubare rhetorische Figur. Paulus sagt: "Prüfet alles und das Gute behaltet“. Das heißt: Ob eine Entscheidung oder ein Trend Zeitgeist sind oder nicht, ist für das Glaubensverständnis zunächst völlig irrelevant. Die Frage ist, ob so etwas mit den Grundorientierungen des Glaubens vereinbar ist. Wenn außerhalb der christlichen oder religiösen Community überzeugende Lebensorientierungen entstehen, die dann auch die Kirche als gut erkennt, warum soll man sie nicht als ein Geschenk und einen Auftrag Gottes wahrnehmen? "Der Geist weht, wo er will.“
"Beim Thema Sexualität nicht gleich mit Sünde und Angst kommen"
Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sexualität etwas Schönes ist, dem man mit Dankbarkeit begegnen sollte. Haben Sie den Eindruck, Protestanten sehen das anders?
Dabrock: Es würde dem Christentum insgesamt, egal ob evangelisch, katholisch oder orthodox, sicher nicht schaden, wenn in Kirche und Theologie deutlicher würde, was für eine schöne Dimension Sexualität im menschlichen Leben darstellt. Ich will eine solche Einschätzung absolut nicht religiös überhöhen, aber diese grundlegend positive Einstellung, die Ambivalenzen überhaupt nicht leugnen muss, zunächst einfach so zu erwähnen, ohne gleich sofort ausgerechnet beim Thema Sexualität mit Sünde und Angst zu kommen, das wäre doch schon mal etwas.
Außerdem haben Sie davon gesprochen, dass auch außerhalb der Ehe verantwortliche Sexualität gelebt wird. Können Sie das näher erläutern?
Dabrock: Ich halte es schon im Ansatz verkehrt zu sagen, Sex ohne Trauschein ist per se etwas Problematisches. Das ist doch eine Debatte von anno dazumal. Man sollte nicht versuchen, verlorenes Terrain zurückzuerobern, sondern man sollte einfach unprätentiös dafür werben, wie gut es ist, Sexualität in der dauerhaften Verbindung der Ehe zu leben. Man sollte den Reiz der Dauerhaftigkeit und der Komplexität bewerben, anstatt moralische Rückzugsgefechte zu führen, die doch seit 1968 komplett verloren sind.
Kann denn die Kirche dann noch zur schrankenlosen Sexualität unserer Zeit und Gesellschaft Position beziehen?
Dabrock: Natürlich kann sie das. Man verliert doch keinen grundsätzlichen moralischen Halt, nur weil man sagt, dass es bei der Sexualität vor allem auf die Kriterien des Umgangs miteinander ankommt – und in dieser Klammer auch der Institution Ehe oder eingetragene Partnerschaft eine hohe Bedeutung zukommt. One-Night-Stands, Zwang, Gewalt, das Ausnutzen von Notlagen wie bei der Prostitution – all das ist nicht mit dem Doppelgebot der Liebe vereinbar. Aber wir dürfen dennoch nicht die Augen davor verschließen, dass es auch in Ehen Gewalt oder Freudlosigkeit gibt. Kurzum: die Ehe romantisch zu überhöhen und die Welt außerhalb der Ehe als die böse darzustellen, das ist nicht nur naiv, das widerspricht der evangelischen Anthropologie, die jeden Menschen äußerst realistisch als radikalen Sünder ansieht. Jeder, auch der vermeintlich Fromme, ist auf die Vergebung, Versöhnung und Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus angewiesen.
"Evangelische Christen wurschteln sich so durch"
Wie steht die EKD denn jetzt zur Sexualität? Das letzte Papier zu dem Thema stammt aus dem Jahr 1971. Bleibt das nun gültig?
Dabrock: Wir sind ja nicht bei der katholischen Kirche, in der die Lehre solange gültig ist, bis sie in einem komplexen Traditionsprozess überboten wird. Um den Text von 1971 kümmert sich heute – bei aller Wirkung, die er hatte – niemand mehr. Heute gilt: Evangelische Christen wurschteln sich so durch. Sie werden sich mehrheitlich vom gesellschaftlichen Mainstream leiten lassen. Schließlich fehlt es weitgehend an "offiziellen“ Orientierungen, an denen man sich hätte abarbeiten können um sein eigenes Profil zu schärfen. Eine Minderheit evangelischer Christen, die sich als fromm und bibeltreu bezeichnen, gewinnt ihr Profil im Wesentlichen aus dem Kontrast zum gesellschaftlichen Mainstream. Ihre vermeintliche Bibeltreue ist im Wesentlichen ein ängstliches Rückzugsgefecht, gegen die als extrem verunsichernd empfundene Pluralität der Gesellschaft ein klares und sicheres Fundament aufbieten zu können. Durch das Schweigen der offiziellen Kirchenseiten wird diesem Durchwurschteln wie seinem Gegenpart, der vermeintlichen Bibeltreue, keine Kontrastfolie geboten.
Was passiert nun mit den mehr als 150 Seiten zur Sexualethik? Behalten Sie die in der Schublade?
Dabrock: Das müssen Sie den Rat der EKD fragen. Ich persönlich hätte es mutig gefunden, wenn der Rat an diesem Entwurf weiter gearbeitet hätte und den Text dann veröffentlicht hätte. Wenn schon nicht als sein eigenes Papier, dann doch wenigstens als ein Papier, das im Haus der Evangelischen Kirche entstanden ist. Ich glaube, es wäre eine gute Grundlage für eine Debatte über eine verantwortliche evangelische Sexualethik gewesen.