Dank einer vielschichtigen Geschichte und hervorragenden darstellerischen Leistungen ist dieser "Tatort" ein fesselnder Krimi aus Ludwigshafen: Nach der Ermordung eines kleinen Mädchens in einem nächtlichen Vergnügungspark haben Lena Odenthal und Mario Kopper (Ulrike Folkerts, Andreas Hoppe) zwar zwei Hauptverdächtige, aber weder Zeugen noch Indizien. Dabei würde gerade Tom Heye (Fabian Busch) bestens ins Täterprofil passen: Der Mann hat vor einigen Jahren ein Mädchen sexuell missbraucht. Geschickt konstruiert Autor Harald Göckeritz ein Szenario, in dessen Verlauf sich der Mann immer verdächtiger benimmt: Kaum hat ihn die Polizei vernommen, löscht er Dateien auf der Festplatte seines Computers und entfernt Fotos aus einem Album. Als er sich erneut an ein Mädchen ranmacht, scheint der Fall aus Zuschauersicht klar. Später stellt sich raus, dass dieses Kind die Tochter seiner Freundin ist, aber auch das spricht naturgemäß eher gegen Tom Heye als für ihn. All das weiß er natürlich selbst, also tut er alles, damit dieser Eindruck gar nicht erst entsteht; und macht es so noch schlimmer. Da Fabian Busch die Verzweiflung des Mannes angemessen ambivalent verkörpert, ist Heye die perfekte Krimifigur: Er weckt zwar Mitgefühl, aber ein Zweifel bleibt.
Diverse Schattenseiten
Gleiches gilt für die erschütterte Mutter des toten Kindes. Auch Annika Kuhl gelingt die Gratwanderung: Einerseits ist man ergriffen, andererseits hat Göckeritz auch diese Figur mit diversen Schattenseiten versehen. Ruth Fichter ist als Kind oft geohrfeigt worden, und sie war offenkundig eifersüchtig auf ihre Tochter, denn der Vater (Roeland Wiesnekker) des Kindes hat das Mädchen vergöttert. Die Kleine ist erstickt worden. Lena Odenthal fragt sich, ob die Mutter das Kind geschlagen hat und dann seine Schreie verhindern wollte. Gleichzeitig ist die Kommissarin von sich selbst schockiert, weil sie die offensichtlich traumatisierte Frau als Mordverdächtige behandeln soll.
Lange inszeniert der kinoerfahrene Gregor Schnitzler ("Soloalbum", "Was tun, wenn’s brennt"), der mit Ulrike Folkerts schon das intensive Psychogramm "Ich bin eine Insel" gedreht hat, den Film unauffällig, fast konventionell; auch wenn die Bilder aus dem vorwinterlich menschenleeren Vergnügungspark mit seinem riesigen hölzernen Achterbahngerüst ziemlich surreal wirken (Kamera: Cornelia Wiederholt). Im letzten Drittel, als die halluzinierende Ruth Fichter immer stärker vom titelgebenden Schrei ihrer Tochter gepeinigt wird, bedient sich Schnitzler allerdings diverser Versatzstücke aus dem Horrorkabinett.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Einige Szenen, vor allem die scheinbare Wiederauferstehung des toten Mädchens aus einem Laubhaufen, entwickeln ein ganz schön unangenehmes Gänsehautpotenzial.
Wie so oft eher ein Fremdkörper ist hingegen die Comedy-Ebene: Kopper muss sich widerwillig um den Sohn einer Cousine kümmern. Der Junge sorgt im Revier für allerlei Wirbel, weil er unter anderem Spülmittel in die Espressomaschine füllt. Das ist zwar stellenweise ganz lustig, verwässert die ansonsten sehr intensiv umgesetzte Geschichte aber bloß.