"Das Herz eines Menschen ist niemals dement"

"Gemeinden müssen den Umgang mit Demenzkranken lernen" - Pfarrerin Eva Escha teilt Schokolade aus
Foto: Dirk Habermann
Schokolade für die Gemeinde
"Das Herz eines Menschen ist niemals dement"
In der Evangelischen Kirche im Rheinland haben etwa 55.000 Mitglieder eine Demenz – doch viele von ihnen tauchen im Gemeindeleben nicht mehr auf. Verunsichert und beschämt ziehen sich viele Betroffene aus der Gemeinschaft zurück. Wichtige soziale Kontakte gehen verloren. Ein Projekt in Köln möchte genau diese Menschen wieder in die Gemeinden holen.

Zarte Harfenklänge empfangen den Besucher der Thomaskirche in Köln schon vor Beginn des Gottesdienstes am 2. Sonntag nach Epiphanias. Ansonsten scheint alles wie immer – Kerzen brennen auf dem Abendmahlstisch, die Kirchenreihen füllen sich langsam. Dann beginnt das Orgelvorspiel. Pfarrerin Eva Esche und Diakon Andreas Mittmann begrüßen die Gemeinde. "gemeinsam und mittendrin" ist das Motto des Gottesdienstes und richtet sich an Menschen mit und ohne Demenz. "Wir haben diese Menschen verloren und haben es nicht gemerkt", sagt Pfarrerin Esche. "Es ist dringend nötig, das wir das ändern. Gemeinden müssen den Umgang mit Demenzkranken lernen."

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Allein in Köln leben über 30.000 Menschen mit einer diagnostizierten Demenz. Die Dunkelziffer liegt vermutlich bedeutend höher. "Hinter einer solchen Zahl stehen natürlich immer Einzelschicksale", sagt Antje Koehler vom Demenz-Servicezentrum. Koehler hat die Geschichten von Erkrankten und ihren Angehörigen gesammelt und das neue Projekt initiiert. Viele von ihnen waren jahrelang in Kirchengemeinden aktiv und gingen auch nach der Diagnose gemeinsam in den Gottesdienst. "Wenn wir zusammen in einen Gottesdienst gegangen sind, brauchte es nur das Überschreiten der Kirchenschwelle und mein Mann hat sich aufgerichtet, wurde wacher und ruhiger", erzählte ihr eine Frau. Doch schnell hat sie die Unsicherheit anderer Gemeindemitglieder bemerkt. Nach und nach ging die Frau nur noch alleine in den Gottesdienst, bald darauf gar nicht mehr.

"Für uns als Gemeinde ist das ein Segen"

Das sei eine typische Vermeidungsstrategie, sagt Antje Koehler: "Menschen mit Demenz aber auch ihre Angehörigen ziehen sich immer mehr aus der Gemeinschaft zurück und werden nicht selten ausgegrenzt." Fachleute gehen inzwischen davon aus, dass betroffene Menschen stärker unter dieser Isolation als unter den Symptomen der Krankheit leiden. "In einer Kirchengemeinde sollte es deshalb nicht zuallererst darum gehen, Spezialangebote für Menschen mit Demenz zu entwickeln, sondern bestehende Angebote zu prüfen und sich zu fragen, wie man sie für diese Menschen öffnen kann", sagt Koehler. Das Ziel müsse sein, dass sich die Betroffenen als Teil der Gemeinschaft erleben können. "Das ist wichtig", sagt auch Eva Esche, "denn das Herz eines Menschen ist niemals dement."

Hier setzt das Projekt "Dabei und mittendrin – Gaben und Aufgaben demenzsensibler Kirchengemeinden"  an, an dem sowohl die katholische Kirche als auch die evangelischen Kirchen in Köln beteiligt sind. Finanziert wird es durch die Robert Bosch Stiftung, die Landesinitiative Demenz-Service NRW und die Alexianer Köln GmbH.

Menschen mit Demenz sowie ihre Angehörigen sollen ermutigt werden, auch mit fortgeschrittener Krankheit Teil der kirchlichen Gemeinschaft zu bleiben. "Für uns als Gemeinde ist das ein Segen", sagt Eva Esche. "Wir müssen uns neu fragen, was unsere Aufgabe ist." Das Projekt beginnt mit Schulungen für interessierte Gemeindemitglieder. Es geht auch darum, Vorbehalte und Ängste abzubauen. "Ich wünsche mir eine offene Gemeinde, die nicht irritiert reagiert, wenn Menschen mit Demenz außerhalb unseres Verstehens agieren oder reagieren", sagt Esche.

"Man muss die Menschen Mensch sein lassen"

An den Schulungen nahm auch Edith Nierhoff teil – gemeinsam mit ihrem demenzkranken Mann Franz Joseph. Sie konnte bei vielen Paaren beobachtet, wie die Erkrankung eines Partners zur Vereinsamung beider führt. "Ich kämpfe dafür, dass die Leute aus ihrer Isolation herauskommen. Man muss die Menschen Mensch sein lassen", fordert sie.

Gemeinsam mit Antje Koehler und anderen Referenten entwickeln die Schulungsteilnehmer ein Modell, wie ein Sonntagsgottesdienst gestaltet werden kann, dass er sowohl Menschen mit als auch ohne Demenz erreicht. "Manches ist ganz einfach – es hilft schon, wenn möglichst viele Sinne angesprochen werden", sagt Koehler. Etwa wenn neben der Orgel noch ein zweites Instrument erklingt oder die Gottesdienstbesucher etwas fühlen, riechen oder schmecken können. "Bekannte biblische Texte und vertraute Lieder helfen, dass sich alle Gottesdienstteilnehmer zurecht finden", erklärt Koehler. "Wir brauchen den Mut, uns auf das Wesentliche zu reduzieren. Eine einfache Sprache und eine kürzere Predigt."

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In Köln predigt Eva Esche über die Jahreslosung: "Gott nahe zu sein ist mein Glück" (Psalm 73,28). In den Gesangbüchern findet jeder Gottesbesucher eine Karte mit dem Vers – er kann so jederzeit nachgelesen werden. Außerdem verteilen Eva Esche und Andreas Mittmann kleine Schokomarienkäfer. "Ich hatte ja erst etwas Probleme damit. Das ist ja keine christliche Symbolik", gesteht Esche. Aber die freudig strahlenden Augen der Gottesdienstbesucher hätten ihr gezeigt, dass es richtig war. Nach dem Gottesdienst erzählt Edith Nierhoff, dass ihr Mann zunächst sehr müde war. Aber die Lieder hätten ihn munter gemacht: "Das Orgelspiel und die Harfe haben seine Seele berührt. Er hat laut mitgesungen", erzählt Nierhoff. Angeschlagen war immer nur die erste Strophe – damit alle sie auswendig mitsingen können. Auch, als während des Gottesdienstes das Lied "Irgendwo auf der Welt" von den Comedian Harmonists erklingt, singen manche leise mit.