Am 29. Dezember 2013 war für viele Journalistinnen und Journalisten in Deutschland der Weihnachtsurlaub beendet. Denn am 29. Dezember 2013 erreichte die deutsche Öffentlichkeit diese Meldung: "Schumacher im Koma". Per Eimeldung erfuhr die Nation, dass der deutsche Formel-1-Weltmeister um sein Leben kämpft. Auf iPhones, Tablets, an PC-Bildschirmen, an Fernsehbildschirmen und Radiogeräten flimmerte und flirrte dieses Ereignis an unsere Augen und Ohren, in unser Bewusstsein: Michael Schumacher hatte einen Unfall. Beim Skifahren. Dieser Mann, der Jahre lang sein Leben mit waghalsigen Manövern und in rasender Fahrt auf den Auto-Rennpisten der Welt riskiert hat und der oft nur so haarscharf davongekommen ist, dieser Mann ist nun in sein Unglück gefahren, als es gar nichts zu gewinnen gab. Nicht im Auto, nicht auf dem Motorrad, sondern auf Skiern hat ihn sein Glück verlassen. Hat er nicht aufgepasst? War er auch auf Skiern zu schnell? War er neben der Piste unterwegs? Fragen über Fragen und – welch eine Geschichte!
So groß, so boulevardesk, so facettenreich, so nah an jedem von uns, dass keiner dran vorbeikommt. Und Nachrichtenportale, Boulevardspalten, Newssendungen, soziale Netzwerke sowieso nicht. Funken, senden, twittern, posten, bebildern, vertonen, texten – etwas Unglaubliches ist geschehen. Michael Schumacher hat's erwischt.
In der Sekunde der Eilmeldung haben wir, die wir in den Medien arbeiten, gewusst, was nun passieren würde. Die Atemlosigkeit der Berichterstattung setzte ein – prompt und verlässlich. Schumacher im Koma auf Position eins der Radio- und Fernsehnachrichten, auf Seite eins der Tageszeitungen, bildschirmfüllend auf Nachrichtenportalen und in sozialen Netzwerken. Aber wie geht die Geschichte weiter? "Schumacher immer noch im Koma", melden die Nachrichten, Portale und Zeitungen am Tag danach. "Schumacher bleibt im Koma. Die Ärzte sind besorgt. Die Familie auch". Melden sie eine Woche danach.
Und dann? "Schumacher kämpft weiter um sein Leben. Schumacher stabil, aber weiter im Koma. Schumacher war gar nicht zu schnell. Schumacher hat eine Helmkamera dabei gehabt." Und so weiter. Wer, frage ich Sie, hat sich gewundert, dass einer aus unserer Branche als Priester verkleidet zu dem Kranken vordringen wollte? Wer hat sich gewundert, dass Schumis Frau Corinna wenige Tage nach dem Unglück ihren Appell an die Journalisten richtete, richten musste: Lasst uns in Ruhe! Wer hat sich gewundert, dass die Klinik in Grenoble kaum ihren Alltagsbetrieb aufrechterhalten konnte, weil die Reporter Zufahrten und Türen blockierten?
Es gibt Augenblicke, die sich der Live-Berichterstattung entziehen
Der kaum noch zu toppende Ausdruck einer atemlosen Berichterstattung war aber der Live-Ticker – ein Angebot von bild.de. Ein Live-Ticker! Schon schwer genug zu füllen, wenn sich ein Fußballspiel dahin schleppt. 20. Minute: Jetzt kommt die Heimmannschaft etwas besser ins Spiel. Flanke von links, aber auch der Ball geht ins Leere. 40.: Einige Zuschauer fragen sich jetzt ernsthaft, wofür sie bezahlt haben. 80.: Immer noch 0:0. Und immer noch keine echte Torchance. Und schließlich 90.: Schlusspfiff. Keine Tore. Welch eine Erlösung. Ja, diese Erlösung ist uns sicher. Ein Live-Ticker von einem Fußballspiel kann, muss nach etwas mehr als 90 Minuten abgestellt werden. Ein Live-Ticker lebt von der Gnade, dass wir wissen, wann es sich ausgetickert hat. Nach 90 Minuten zum Beispiel.
Aber ein Live-Ticker über das Leben eines Menschen im Koma? Was passiert denn, wenn der, der an die Geräte der modernen Medizintechnik angeschlossen ist, ums Weiterleben kämpft? Für den Besucher – und das ist das kaum Erträgliche für die Angehörigen – für den Besucher am Krankenbett rein gar nichts. Was wirklich passiert in dieser dramatischen Zeit bleibt das Geheimnis derer, die es erleben müssen. Das, was sie ihrer Umwelt mitteilen könnten, haben sie weitestgehend vergessen, wenn sie aus dem Koma erwachen. Oder sie erwachen eben gar nicht mehr. Wie soll dieses stille Leiden sinnvoll erfasst werden per Live-Ticker? Es gibt Augenblicke im Leben, die sich der Live-Berichterstattung entziehen. Die reserviert sind für andere und anderes. Diejenigen, die stundenlang am Bett eines Sterbenden oder eines Koma-Patienten sitzen, werden – selbst wenn sie es wollten – auch nichts zur Live-Berichterstattung beizutragen habe. Sie machen eine Zeit durch, die sich der Alltagskommunikation entzieht. In dieser Zeit ist gesegnet, wer am Bett eines lieben Menschen die Nähe Gottes erfahren darf.
Live-Ticker! Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte es passieren, dass wir annehmen, jede Wirklichkeitsphase unseres Lebens sei unmittelbar berichtbar für die Öffentlichkeit – minütlich und sekündlich gleichsam, und sei sie noch so stillständig, öffentlichkeitssperrig, langsam und einsam. Die technische Entwicklung der uns zur Verfügung stehenden Medien ist eine Erklärung. Die medienpolitischen Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten eine andere. Die Art und Weise, wie Menschen von jeher miteinander kommunizieren, eine dritte.
Live-Berichterstattung birgt den Augenblick des Ungewissens
Zur Technik: Mit der Erfindung des Radios ist es grundsätzlich möglich geworden, sich vollziehende Ereignisse unmittelbar in die Öffentlichkeit zu transportieren. Welch eine Faszination dadurch ausgelöst wird, können wir ermessen, wenn wir an die Sternstunden des Hörfunks denken. Die Live-Reportage von der Rettung der Bergleute in Lengede, von der Flutkatastrophe in Hamburg oder – natürlich – vom Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Noch heute spielen viele Stadionsprecher auf deutschen Fußballplätzen den Torschrei von Herbert Zimmermann ein, wenn die eigene Mannschaft getroffen hat. Und jeder hier und ganz viele kennen den Satz: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…", und viele von Ihnen müssten ihn ergänzen können.
Nicht wenige Historiker oder Politikwissenschaftler messen dieser Radioreportage eine auch politisch ungeheure Bedeutung bei, markieren den Sieg von Bern als eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland, dessen symbolische Kraft sich aber nur entwickeln konnte durch die Live-Schilderung von Herbert Zimmermann im Radio.
Faszination Live-Berichterstattung also, die nach einer Überlappungszeit in den 60er Jahren weitgehend gewandert ist vom Radio ins Fernsehen und die gespeist ist von dem Moment des Ungewissen, von dem Augenblick des Ungewissen: Wenn Zimmermann den Satz sagt: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen" – in diesem Sekundenbruchteil, weiß noch niemand, dass in der nächsten Sekunde kaum endender Jubel ausbrechen wird – ein Jubel, der heute noch nachhallt. Wenn wir auf die rauchenden Twin-Towers im Livebild des Fernsehens am 11. September 2001 kurz nach 15 Uhr schauen, wissen wir noch nicht, dass sie wenige Minuten später in sich zusammenstürzen werden. Faszination, auch traurige Faszination Live-Berichterstattung. Der Augenblick, die Momentaufnahme!
Im Moment des Augenblicks ist seine Banalität nicht erkennbar
Zur Medienpolitik: Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem konnte es sich erlauben, als es noch das Monopol auf die Faszination Live hatte, damit sparsam umzugehen. Live war, was in vorgegebene Sendezeiten passte, heutzutage unvorstellbar. WDR2, die Erfinderin der bis heute legendären Fußball-Konferenz-Schaltung, übertrug samstagnachmittags von 15.30 bis 17.30 Uhr, dann war Schluss. Danach kam eine landespolitische Sendung. Wenn's im DFB-Pokal mal spannend wurde, wenn Spiele in die Verlängerung gingen und bis 17.50 Uhr liefen, war Schluss mit Live. Wenn der Kollege gnädig war, gab’s vielleicht noch eine Meldung vom Endergebnis. In Konkurrenz zu den Privatradios und den privaten Fernsehanstalten ist ein solches Verhalten heutzutage undenkbar.
Heute dreht sich die Faszination Live dafür weiter bis ins Lächerliche. Sky News HD sendet rund um die Uhr Sport-Nachrichten, gern auch live. Die Aufwärmübungen der FC Bayern-Profis beim ersten Training unter Pep Guardiola waren den Kollegen eine Live-Übertragung wert. Und bei der Landung des Fliegers, der den Bayern-Tross nach dem Champions-League-Sieg aus London nach München zurückbrachte, waren sie alle wieder live vor Ort – ARD, ZDF unter anderem und eben auch Sky. Für die stand der ehemalige ARD-Mann Uli Köhler im strömenden Regen, um in bitterer Kälte und mit triefender Nase von der Landung eines Flugzeugs zu berichten, von dem Öffnen einer Flugzeugtür, von dem Interieur eines Busses im emsigen Bemühen, in Konkurrenz zu den ebenfalls berichtenden Kolleginnen und Kollegen der anderen Sender einen O-Ton von irgendeinem der Spieler zu erwischen. Die Reporterfrage, die ich nicht mehr wörtlich replizieren kann, war so belanglos wie: "Haben Sie schön gefeiert?" Und die Antwort hatte die Ausführlichkeit und Qualität eines: "Ja, haben wir."
Was als Faszination begonnen hat und mit Zimmermann zur Legende wurde, die Live-Reportage eines monumentalen Höhepunkts, degeneriert immer wieder in der Flut der modernen Medienwelt zur nicht mehr zu unterbietenden Banalität des Augenblicks.
Ich habe diese Momente selbst erlebt als Live-Reporter. Unvergessen für mich der Moment am 13. Mai 1990, niedersächsische Landtagswahl. Ich war als Reporter für das niedersächsische Privatradio ffn vor Ort. Nach der Prognose und der ersten Hochrechnung verdichtete sich der Trend zur politischen Sensation: Rot-Grün hauchdünn vor Schwarz-Gelb, Gerhard Schröder löst mit Jürgen Trittin Ernst Albrecht ab. Eingekeilt von zahlreichen Kameraleuten und Fotografen stand ich oben auf der Landtagstreppe, als Gerhard Schröder die Stufen hinaufstieg – kaum vorwärtskommend durch die ihn bedrängende Menge der Kolleginnen und Kollegen. Live aufgeschaltet meine atemlose Reportage, da kommt er, so sieht er aus, seine Frau begleitet ihn, jetzt, jetzt ist er bei mir, ganz nah: "Wie fühlen Sie sich?" "Gut!" Weg ist er, aber ja, wir hatten ihn live. Wer das einmal erlebt hat, wer diese Belanglosigkeit des Augenblicks wahrnehmbar gemacht hat für die Öffentlichkeit, ohne in diesem Moment dessen Trivialität zu ermessen, der kann den Rausch nachempfinden, den auch ein Uli Köhler gefühlt haben mag, als er uns – klitschnass und frierend – erzählt hat, wie das Flugzeug mit den Bayern-Spielern jetzt deutschen Boden erreicht. Ja! Live!
Wir können keine ruhige Kugel schieben
Zur Kommunikation miteinander, Alltagsbeispiele: Mutti ist gut angekommen, Papa ist wieder zurück, Leo hat eingekauft, Maria hat gestern Max wiedergetroffen, echt geil hier auf der Party, Tobias hat die Prüfung bestanden, Hanna ist wieder gesund. Als Familienmitglied und Freund interessiert mich das alles brennend. Aber was passiert, wenn wir dies nicht nur uns untereinander, sondern der Öffentlichkeit mitteilen können? Die ehemaligen Radiohörer, Fernsehzuschauer, Zeitungsleser werden zu Live-Produzenten, können raus aus ihrem Gefängnis, können sich der Welt mitteilen. "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…" steht plötzlich auf Augenhöhe mit "Leo hat eingekauft" und "Echt geil hier auf der Party."
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Der Spiegel formuliert das so: "Das Internet spinnt eine Gegenöffentlichkeit zu den klassischen Medien, indem es sie plündert, ihnen den Heiligenschein raubt; es zwingt die Print-Medien, ihre Zeitungen nicht mehr wie Care-Pakete abzuwerfen: Das Netz macht aus Lesern Gesprächspartner, Korrektoren, Inspirateure – und Nervensägen, Intriganten, Hetzer." Und der Spiegel schreibt auch: "Welche Nachricht ins öffentliche Bewusstsein dringt, was skandalisiert und debattiert wird, das ist inzwischen die Folge eines schnellen Hin und Her zwischen Magazinen, Websites und TV, zwischen sozialen Medien wie Facebook und Aggregatoren wie Google. Zeitungen, wenn sie schlecht sind, bilden am nächsten Morgen ab, was beim Hin-und Her-Flippern rausgekommen ist; Zeitungen, wenn sie gut sind, liefern neue Kugeln für den neuen Tag."
Womit wir beim Problem sind.
Denn wir auf dem Christlichen Medienkongress sind, wenn wir unseren Job gut machen, die Profis an diesem Flipper. Wir können, um im Bild zu bleiben, keine ruhige Kugel schieben. Wir müssen unseren Job machen. Einen Job, der mehr live ist als je zuvor. Ein Job, der kaum noch Ruhepausen kennt. Ein Job, für den es keinen Redaktionsschluss mehr gibt. Und ewig ruft der Live-Ticker. Ist das unser Schicksal?
Einzelne können schlafen, die Masse schläft nie
Mit der analogen Ruhe ist es jedenfalls vorbei. Kaum jemand, der in unserer Branche tätig ist, kann die Meldung von Schumachers Unfall wahrnehmen, ohne in seiner eigenen Tätigkeit davon berührt zu sein. Was früher anders war: Da blieb die Berichterstattung über dieses Ereignis den Kollegen vom Sport, allenfalls den Nachrichten überlassen, die Kollegen von Bild, Bunte und dem anderen Boulevard zogen nach, ohne auf den Faktor live achten zu müssen. Das Ereignis hätte am Tag des Unfalls sein Meldungseckchen in zwei, drei Nachrichtensendungen gefunden, um dann wieder zu verschwinden, bevor sich tatsächlich Neues ereignete. Heutzutage also Live-Ticker.
Alle, die wir als Journalisten arbeiten, leben von der Aufmerksamkeit der Menschen, für die wir senden, schreiben und posten. Um das Interesse unserer Zielgruppe geht es, jeden Tag. Und die Konkurrenz war immer schon groß und wird nun beinahe unüberschaubar: Die Produkte der direkten Konkurrenten, die Produkte der anderen Mediengattungen und die Leser selbst als Produzenten in den sozialen Netzwerken und in ihren Blogs. Und immer geht es um Interesse, Aufmerksamkeit, Zeit. Wenn einer wie Michael Schumacher einen so schweren Unfall erleidet, was kann an diesem Tag und in der folgenden Zeit das Interesse daran und die Aufmerksamkeit dafür toppen? Wie viel Zeit werden die Leser, Fernsehzuschauer, Radiohörer und Internetuser wohl noch anderen Themen widmen?
Und so passiert es dann. Der Sog des Themas wird unüberwindbar. Medienjournalisten können von der ersten Sekunde an, mit der Wahrnehmung der Eilmeldung beginnen, die medienethischen Aspekte zu reflektieren. Weil bereits von Beginn an klar ist, dass es den Aufschrei geben wird, unvermeidbar. Hört auf uns zu bedrängen, ihr Journalisten, fleht und droht Corinna Schumacher. Und das wussten wir in dem Moment, in dem die Eilmeldung kam, dass dieser Aufschrei kommen würde. Nachrichtenchefs werden von der ersten Sekunde an darüber nachdenken, was morgen, übermorgen und in drei Tagen zu berichten sein wird. Denn es muss berichtet werden. Nachrichtenmagazine, die Tage später erscheinen, müssen die Geschichten recherchieren, die hinter der Geschichte stecken. Und wenn wir dann nicht aufpassen, kommt es zu den Unfällen nach dem Unfall, dem Unglück, dem Attentat, der Katastrophe. Live-Ticker! Täterjagd nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon durch die User mit dem Fokus auf einem Unschuldigen. Atemlos. Hysterisch. Kein Redaktionsschluss. Einzelne können schlafen, die Masse schläft nie.
Journalisten verdienen Geld mit dem medialen Interesse der Menschen
Der Beruf des Journalisten wird oft als Traumberuf bezeichnet. Zu Recht! Wer das Privileg hat, Menschen mit Nachrichten und Geschichten zu versorgen, arbeitet in einem Traumberuf. Wem es gelingt, viele Menschen für das, was er berichtet, zu interessieren, ist König. Doch in digitalen Zeiten ist es erheblich viel schwerer geworden, genau das zu erreichen – das Interesse der Menschen. Deshalb kann aus einem Traum auch ein Albtraum werden.
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Wenn Du aus Deinen Träumen gerissen wirst, weil nachts das Telefon klingelt und die Kollegin sagt, Lady Di sei verunglückt, dann weißt Du, wenn Du wachgeworden bist: Jetzt gilt es! Du weißt: Es ist etwas passiert, was sehr viele Menschen interessieren wird. Und Du weißt: An anderen Plätzen, in anderen Zimmern, klingelt jetzt auch das Telefon und da werden Menschen aus dem Schlaf gerissen, die genau das auch wissen: Jetzt gilt es! Aber wie verhindern wir, dass unser Leben als Journalisten in digitalen Zeiten zu einer einzigen Sondersendung verkommt? Was tun wir gegen den Live-Ticker am Bett eines Schwerstkranken?
Zum Beispiel: uns nicht selbst täuschen. Seien wir ehrlich. Wer den Beruf des Journalisten gewählt hat, hat eine Grundsatzentscheidung getroffen. Die Entscheidung lautet: Ich möchte mein Geld damit verdienen, Themen zu finden, zu recherchieren und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und damit willige ich auch ein, dass ich dem medialen Interesse der Menschen diene. Eine andere Frage ist, wer dieses Interesse definiert. Jeder Mensch für sich allein? Diese Frage stellt sich unter anderem medienethisch, demokratietheoretisch und liberal. Aus dieser Frage zieht zum Beispiel das beitragsfinanzierte öffentlich-rechtliche System einen wichtigen Teil seiner Legitimation.
Die ethische Verpflichtung des Handwerks ist entscheidend
Aber was unterscheidet den Journalisten vom interagierenden User, der seine eigenen Geschichten online veröffentlicht? Journalisten haben ihr Handwerk gelernt. Und weil das so ist, sind sie darauf auch verpflichtet. Sie bedienen deshalb nicht alles, was konsumiert wird oder werden könnte. Der ARD-Tatort aus Köln mit dem Titel "Franziska" lief um 22 Uhr, weil eine frühere Sendezeit jugendgefährdend gewesen wäre. Womit nicht unbedingt die selbst artikulierten Interessen der Jugendlichen bedient wurden.
Journalisten beachten, wenn sie die Selbstverpflichtung auf ihr Handwerk ernst nehmen, ethische Regeln ihres Tuns. Sie verzichten auf Verunglimpfung oder die Bedienung niedriger Motive, auch wenn das manche Menschen interessieren würde. Kein Blutbild, wenn es nicht unbedingt der Sachaufklärung dient. Immer wieder geht es um die von Heinrich Böll meisterhaft skizzierte Ehre der Katharina Blum, deren Unverletzlichkeit unbedingt Beachtung finden muss und – das ist das tragische Moment in Bölls Erzählung – für Katharina Blum verloren geht, weil die journalistische Selbstverpflichtung mit Füßen getreten wird. Wenn wir Menschen, die wir zu Objekten oder besser Subjekten unserer Berichterstattung machen, nicht die Ehre und die Würde nehmen, auch und vor allem dann nicht, wenn sie hilflos sind, haben wir unser Handwerk gelernt. Konkret entscheiden wir uns dann immer wieder für, aber im richtigen Moment gegen den Live-Ticker.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Natürlich bin ich kein Gegner des Live-Tickers als moderne Form journalistischer Ereignis-Berichterstattung. Ich bin aber dezidiert für den angemessenen Einsatz dieses Instruments.
Und auch das möchte ich betonen – nur zur Klarstellung: Viele – die meisten(!) – bloggenden und postenden User halten sich unbedingt an Standards, die der journalistischen Ethik entsprechen. Viele Kommentare und Blogs bringen herausragende Qualität ins Netz. Aber eine ethische Verpflichtung, die sich aus einem erlernten Handwerk ableiten und deren Einhaltung von Schluss- und Chefredakteuren kontrolliert würde, gibt es nicht. Und so sehen wir in der digitalen Realität auch das Phänomen Shitstorm, das üble Blüten treiben kann.
Christliche Medien können Vorbilder sein
Überlebensstrategien für eine Zeit ohne Redaktionsschluss. Oder schlichter: Journalistisches Handwerk in digitalen Zeiten. Letztlich wird es Sache jedes Einzelnen bleiben, abzuwägen zwischen dem Sog der Ereignisse, der Besonnenheit des professionellen Journalisten und dem, was als zeitliche und sachliche Überforderung erkannt und tunlichst vermieden werden muss. In Zeiten von mp3 und mp4 mutet es an wie eine Veteranengeschichte, aber 1988 habe ich im Konferenzraum eines Hörfunksenders tatsächlich das erste Mal einen Programmchef erlebt, der ein hemdtaschengroßes Radio in der Brusttasche hatte und während der Konferenz, die anstrengend war, unentwegt Radio hörte. Programmkontrolle!
Es war meine erste Konfrontation mit einem Leben ohne Redaktionsschluss, wobei ich mich Jahre später in den Funktionen Nachrichten- und Wellenchef selbst mit Kleingerät in der Tasche und Knopf im Ohr ertappt habe. Wer aber dauerhaft in ein Leben ohne Redaktionsschluss einwilligt, wird sich überfordern, egal welche technische und sachliche Herausforderung es zu bestehen gilt. Ein Leben ohne Redaktionsschluss knipst den journalistischen Verstand mehr und mehr aus, je länger die Phase ohne Pause dauert, und führt immer weiter in den unreflektierten Rausch von Live und Atemlosigkeit. Davon ist abzuraten. Nicht nur die, aber auch und gerade christliche Medien und christliche Medienmacher können Vorbilder sein dafür, wie es anders geht.
Dazu drei Beispiele zum Schluss:
"Wie im Nebel in einem kleinen Boot" hat evangelisch.de das Interview überschrieben mit dem evangelischen Pfarrer Peter Frör, der lange Zeit Krankenhauspfarrer im ökumenischen Seelsorgezentrum am Klinikum der LMU München, Schwerpunkt Intensivstation, war. Peter Frör gibt Auskunft über Seelsorge am Bett eines Komapatienten. So beantwortet er zum Beispiel die Frage, ob diese Menschen überhaupt Seelsorge benötigen:
"Sie können nicht sagen: 'Ich brauche Seelsorge.' Sondern es ist eher andersherum: Entweder man besucht sie und nimmt den kirchlichen Auftrag wahr – dann muss man sich dem stellen, was man dort antrifft. Oder man geht nicht zu ihnen hin – dann macht man gar keine Erfahrung dort. Wenn man aber gar nichts erfährt, dann bekommen die Menschen, die im Koma liegen, nicht die Orientierung und Unterstützung, die ihnen die Seelsorge geben kann."
Ein Interview von evangelisch.de vom 6. Januar 2014, das ich gern gelesen habe. Das mir zur Einordnung des Geschehenen, mit dem ich tagelang in Nachrichten und Zeitungen konfrontiert worden bin, sehr geholfen hat.
Ein zweites Beispiel:
Als die Fernsehzuschauer am 4. Dezember 2010 den Atem anhielten, weil ein junger Mann auf Powerjumpern per Salto über auf ihn zufahrende Autos springen wollte, da war sie wieder da: Die dramatisch-traurige Seite der Faszination live. Samuel Koch hat seinen Salto mit dem fast vollständigen Verlust seiner Bewegungsfähigkeit bezahlt. Als das Ausmaß seines Unglücks klar war, widerstand das ZDF jeder Versuchung auf Wiederholung der live gezeigten Bilder. Die Passage auf YouTube wurde gelöscht. Idea näherte sich der tiefgläubigen Familie behutsam, weit entfernt von den Versuchungen eines Live-Tickers. Und der Verlag adeo ließ ihn schließlich ausführlich selbst zu Wort kommen. Das Buch von Samuel Koch wurde zum Bestseller.
Auch hier könnte natürlich eingewendet werden, dass einem unseriösen Mechanismus gefolgt wird – zur Ankurbelung der Aufmerksamkeits-Ökonomie. Aber auch in diesem Fall bin ich der Ansicht, dass sowohl idea als auch adeo sich sehr angemessen der Person und dem Schicksal Samuel Kochs gewidmet haben.
Und ein letztes Beispiel:
Als die Familie von Otilia auf der Heimfahrt aus dem Urlaub in den Tod fuhr, der Mann und die beiden Kinder, war keine Kamera zugegen. Die Frau muss mit einem Schicksal fertig werden, das zum Verzweifeln ist. In der Oktoberausgabe 2013 von chrismon zeigt sie sich von ihrer schönsten Seite: Adrett geschminkt, gut frisiert, anziehend gekleidet. Weil sie dem evangelischen Magazin vertraut, ihre Geschichte anvertraut. Ist das eine Hiobs-Geschichte? Nein, es ist und bleibt eine Otilia- und dann einige Seiten weiter eine Tila-Geschichte. Und dann eine Tila- und Jürgen-Geschichte. Sie zu recherchieren und zu erzählen ist eine herausragende journalistische Leistung von chrismon.
Tila sagt: "Wir sind eine große Familie. Als wir sonntags mit Jürgens Eltern einen Brunch hatten, haben wir fünf Kerzen auf den Tisch gestellt. Wir zündeten die Kerze an und sagten die Namen unserer Verstorbenen. Ich für meine drei, er für seine zwei. Dann haben wir das Vaterunser gebetet. Das war traurig. Und auch wieder schön." Ende der Geschichte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.