"Ich kenne die Menschen hier. Sie haben ein großes Herz"

Blick aus dem Spielzimmer der Notunterkunft auf den Schnee
Foto: Anne Kampf/evangelisch.de
Innen warm und außen kalt - Blick aus dem Spielzimmer der Notunterkunft auf den Schnee
"Ich kenne die Menschen hier. Sie haben ein großes Herz"
Wie ein Journalist Ausländerfeindlichkeit und Hilfsbereitschaft erlebt
Seit September 2013 sind in einer ehemaligen Kaserne in Burbach im Siegerland (NRW) Flüchtlinge untergebracht. Es dauerte nicht lange, bis die Stimmungsmache begann: Unterstützt durch eine mediale Berichterstattung, die sich mehr auf Vermutungen, unbestätigte Quellen und wenig belastbare Zahlen denn auf die Fakten stützte, begann eine virtuelle Hetzjagd gegen die Schutz suchenden Menschen. Der Journalist Tim Plachner geriet mitten hinein. Für evangelisch.de schildert er seine Eindrücke während der Recherche.

Immer wieder sah ich mich mit Vorurteilen konfrontiert: "Die Flüchtlinge klauen wie die Raben", hieß es. Und das war noch ein harmloser Vorwurf. "Die packen unsere Kinder an", mutmaßte eine junge Frau in einem Internet-Forum. Man brauche mal wieder "einen kleinen A..... H.....", hetzt ein Feuerwehrmann. Eine Tageszeitung zitierte Verkäuferinnen, die Angst hätten, zur Arbeit zu gehen. Sie wollten anonym bleiben. Vor einem Supermarkt wurde ein Security-Mann stationiert. Mir sagte er, er solle hier "auf die Ausländer aufpassen". Das machte er auch: Während "Deutsche" unbehelligt passieren konnten, mussten südländisch aussehende Kunden ihre Taschen, Tüten oder Rucksäcke vor dem Einkauf bei ihm abgeben.

Diebstähle? Ja, aber verschwindend wenige

Es waren merkwürdige Eindrücke, die ich im beschaulichen Burbach sammeln konnte. 15.000 Einwohner hat die ländliche Gemeinde im waldreichsten Kreis Nordrhein-Westfalens. Plötzlich steht sie im Fokus, wird in diversen Medien in einem Atemzug mit Duisburg und Berlin genannt, wo ebenfalls öffentlich gegen Flüchtlinge gehetzt wird.

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Doch ich weiß es besser. Ich wohne selbst nur wenige Kilometer entfernt und kenne die Menschen hier. Ich weiß um deren Hilfsbereitschaft. Sie haben ein großes Herz. Und deswegen mache ich mich auf Spurensuche.

Schnell wird klar: Das öffentlich hergestellte Bild der marodierenden Banden, die brandschatzend durch den Ort ziehen, Ladendiebstähle begehen, Frauen und Kinder begrapschen und die Umwelt zumüllen, existiert nicht. Der Pressesprecher der Polizei spricht von Vorkommnissen, die in keinster Weise beunruhigend seien. Weder die Zahl der registrierten Diebstähle, noch die Art der entwendeten Waren: Schokoriegel seien geklaut worden. Oder Shampoo. Nähgarn. Dinge des täglichen Bedarfs, meist im niedrigen, zweistelligen Euro-Bereich. Alles in einem Rahmen, der gemessen an den rund 500 in der Burbacher Unterkunft beheimateten Flüchtlinge fast schon verschwindend gering sei.

Menschen aus 15 Ländern - ein Pulverfass

Ich mache mir ein Bild vor Ort, verabrede mich mit dem Leiter des Flüchtlingsheims. Bei Temperaturen um den Nullpunkt laufen Menschen mit Flip-Flops umher. Kinder, die nicht ausreichend dick eingepackt sind und vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben im Kalten draußen spielen müssen. Auf dem Hof und vor dem Büro der Verwaltung ein wahnsinniges Wirrwarr an Sprachen: Menschen aus rund 15 verschiedenen Ländern sind hier untergebracht. Eritreer, Syrer, Iraker, Mazedonier. Man bemühe sich, die kulturellen Unterschiede zu beachten, versichert man mir. Wie soll das nur gehen, frage ich mich. Irgendwie landen ja doch alle "auf einem Haufen" oder in einem Zimmer.

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Es ist ein kleines Pulverfass. Menschen, auf der Suche nach einer besseren Zukunft, einkaserniert in Acht-Bett-Zimmer. Sammelduschen auf dem Flur. Männer und Frauen gemeinsam auf wenigen Quadratmetern, innerhalb der gleichen vier Wände – in vielen Kulturen ein absolutes "No-Go", doch hier muss das halt funktionieren. Viele versuchen, das Beste daraus zu machen. Sie belegen in der Unterkunft Deutsch-Kurse. Eine Einzelhändlerin in Burbach erzählt mir, die Flüchtlinge kämen keineswegs, um zu betteln oder zu klauen. "Die meisten wollen gerne ein Wörterbuch, damit sie besser zurecht kommen", sagt sie.

Dennoch knallt es ab und an. Wenige Wochen vor Weihnachten kommt es zu einer Auseinandersetzung im Heim: Familiäre Streitigkeiten sind eskaliert, Dutzende liefern sich eine Prügelei. Die Polizei rückt mit einem Großaufgebot an, kann die Lage beruhigen.  Für die Hetzer war das erneut Wasser auf die Mühlen: "Lass die sich doch gegenseitig abmurksen", frohlockt ein junger Mann. Andere ärgern sich darüber, dass durch den Polizeieinsatz Steuergelder verschwendet würden.

Ein Vorwurf an Plachner: "Ausländerkuscheln"

Ich beziehe Stellung. In mehreren Artikeln berichte ich sachlich, stelle Zahlen richtig, arbeite mit Zitaten und Fakten. Ich beschreibe die Schicksale der geflüchteten Menschen. Die Reaktionen sind überwältigend: Hunderte Zuschriften von Lesern per Brief, Email oder als Kommentare auf unserer Web- und Facebook-Seite. Mehr als 90 Prozent freuen sich über den medialen Gegenpol zur ansonsten eher negativ geprägten Berichterstattung. Und doch gibt es auch gehässige Wortmeldungen: Ich neige wohl zum "Ausländerkuscheln" und verkenne "die bittere Realität", wird mir vorgeworfen. "Gutmenschen" wie ich würden früher oder später schon noch merken, wie schlimm es um Deutschland stehe.

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Damit kann ich leben. Auch, weil meine Berichterstattung mittlerweile bundesweit widergespiegelt wird. Der "Stern" greift die Geschichte rund um den Supermarkt und den Security-Mann auf. Als Konsequenz daraus wird die Maßnahme entschärft. Eine Demonstration "pro Flüchtlinge" mit einer dreistelligen Teilnehmerzahl wird ins Leben gerufen. Jugendliche organisieren ein Punk-Konzert, stiften die Einnahmen. Und dann immer wieder diese famose Spendenbereitschaft der Siegerländer: Hunderte Teddybären und sonstiges Spielzeug erreichen die Einrichtung. Winterkleidung wird per Kleintransporter angekarrt. Es war bisweilen so viel, dass die Spenden direkt an ähnliche Flüchtlingsheime in ganz Deutschland weitergeleitet werden konnten.

Die Burbacher und Siegerländer haben ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie stehen hinter den Flüchtlingen. Sie heißen sie willkommen, sie wollen ihnen helfen. Ich wusste es die ganze Zeit.