Selten hat ein Autor das Unglück der Liebe so schonungslos seziert wie Leo Tolstoi in seinem Klassiker "Anna Karenina" (1878). Entsprechend oft ist das Buch verfilmt worden. Die Erlebnisse der Titelheldin, die ihren Mann zugunsten eines schneidigen Offiziers verlässt und doch nicht glücklich wird, sind von zeitloser Tragik. Die jüngste Adaption, eine italienisch-deutsche Koproduktion, hat die Geschichte zwar nicht neu erfunden, bietet aber dank prunkvoller Paläste, diverser Massenszenen und einer sehenswerten Hauptdarstellerin reichlich Schauwerte für einen bewegenden Fernsehabend. Regie führt der Kanadier Christian Duguay ("Hitler – Der Aufstieg des Bösen"), der bereits einige europäische Feiertagsproduktionen gedreht hat ("Augustinus", "Pius XII."). Abgesehen von den schwungvollen Kamerafahrten während eines Balls, bei dem das Liebespaar ins vermeintliche Glück tanzt, ist die Inszenierung wie bei den meisten Großprojekten dieser Art jedoch weitgehend unauffällig.
Emotionale Höhen und Tiefen
Die Adaption durch Francesco Arlanch hält sich im Wesentlichen an die Vorlage, verlagert allerdings die Schwerpunkte. Tolstois umfangreiches Werk ist ein literarisches Tryptichon, dessen Erzählstränge sich drei adligen Familien widmen. Der TV-Zweiteiler konzentriert sich jedoch im Wesentlichen auf zwei Hauptfiguren: Anna Karenina (Vittoria Puccini) ist mit einem etwas steifen Petersburger Staatsbeamten (Benjamin Sadler) verheiratet und entbrennt in hemmungsloser Leidenschaft, als der Offizier Wronski (Santiago Cabrera) ihr in Moskau unverblümt den Hof macht. Dramaturgisches und emotionales Pendant zu Anna ist der grüblerische Gutsbesitzer Lewin (Max von Thun). Er liebt Kitty (Lou de Laâge), die jüngere Schwester von Annas Schwägerin, aber auch die hat bloß Augen für Wronski. Enttäuscht kehrt Lewin auf sein Gut zurück, hadert hinfort mit Gott und stürzt sich in tollkühne Pläne, dem Schöpfer auch dann eine erfolgreiche Ernte abzutrotzen, wenn wochenlang der Regen ausbleibt. Kitty versucht derweil, ihren Kummer in einem deutschen Lazarett zu vergessen. Auch für Anna entwickeln sich die Dinge nicht wie erhofft: Durch ihre Affäre gefährdet sie das Ansehen ihres Mannes. Sie wird schwanger, stirbt beinahe bei der Geburt und bekennt sich, scheinbar geläutert, wieder zum Gatten, um ihn kurz drauf doch zu verlassen, obwohl sie ihren älteren Sohn zurücklassen muss. Aber die Beziehung zu Wronski steht unter einem schlechten Stern; immer öfter wird Anna von einer wahnhaften Eifersucht übermannt, so dass sie schließlich nur einen Ausweg sieht.
Vittoria Puccini, eine frugale italienische Schönheit, verkörpert Anna Karenina facettenreich genug, um die emotionalen Höhen und Tiefen, die die Figur erlebt, glaubhaft zu vermitteln. Da der Chilene Cabrera in erster Linie gut auszusehen hat, können die beiden deutschen Schauspieler darstellerisch um so mehr glänzen. Gerade Sadler, oft genug selbst als Frauenschwarm besetzt, spielt den zwischen Konventionen und Karriere gefangenen Beamten ganz ausgezeichnet; er vermittelt äußerst überzeugend, dass es für Karenin Wichtigeres im Leben gibt als die Liebe. Max von Thun wiederum, der die Gefühle des melancholischen Lewins in Form eines inneren Monologs erläutern darf, spielt seine Rolle ähnlich gut, selbst wenn das Drehbuch Lewins Hadern mit Gott zwangsläufig arg verkürzt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auch Annas Wahnvorstellungen werden allenfalls angedeutet, so dass der Schluss, als ein Leben weggeworfen und ein anderes geboren wird, umso schockierender ist. Geschickt ist allerdings Arlanchs Idee, Anfang und Ende miteinander zu verknüpfen. Der Film beginnt wie das Buch mit einem der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, doch jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Am Schluss erkennt Anna das Leben als "einzige große Lüge".