Es war vermutlich gar nicht so leicht, zum zehnjährigen Jubiläum von Hauptkommissar Borowski eine besondere Geschichte zu finden, denn die Fälle des von Axel Milberg so unnachahmlich verkörperten Kieler Ermittlers fallen immer aus dem Rahmen. Für "Borowski und der Engel" gilt das allerdings erst recht. Es gibt zwar gewaltsam herbeigeführte Todesfälle, aber keinen Mord im klassischen Krimisinn. Außerdem ist man als Zuschauer von Anfang an eingeweiht, dass die vermeintliche Heldin in Wirklichkeit eine Schurkin ist, die ein ganz besonders perfides Spiel treibt.
Helding mit Persönlichkeitsstörung
Und trotzdem wirkt Sabrina Dobisch dank der fragilen Verkörperung durch Lavinia Wilson eher wie eine Getriebene als wie eine Täterin, zumal es durchaus Hinweise gibt, dass ihr geistiger Gesundheitszustand zumindest angegriffen ist. Die Dame ist Altenpflegerin mit einem Faible für Schwarzweißschnulzen, in denen sozial benachteiligte junge Frauen die große Liebe und den gesellschaftlichen Aufstieg erleben. Von solch’ einer Karriere träumt auch Sabrina, und eines Tages lädt der Zufall sie dazu ein, ihre Träume zu verwirklichen.
Allein diese Figur ist schon ein Genuss, und vermutlich hat Lavinia Wilson laut gejubelt, als sie die Rolle bekommen hat: Dank Sabrinas Neigung zu melodramatischen Auftritten darf die Schauspielerin ganz viele Facetten zeigen. Sieht man davon ab, dass sie eine notorische Lügnerin ist, sind die Opfer, die Sabrinas konsequent verfolgter Weg fordert, eher zufälliger Natur; auch wenn sie die Kollateralschäden sozusagen billigend in Kauf nimmt. Zunächst ist allerdings viel Zufall im Spiel: Nach einem Verkehrsunfall, den sie selbst herbeigeführt hat, rettet Sabrina einer Autofahrerin (Leslie Malton) das Leben; für einen hoffnungsvollen jungen Pianisten kommt jedoch jede Hilfe zu spät. Trotzdem wird Sabrina als Heldin gefeiert, und weil der junge Mann aus einer Bankiersfamilie stammt, bekommt sie auf diese Weise Zutritt zu den höheren Kreisen der Hansestadt. Aber dann entgleiten ihr die Zügel.
Da die Hauptfigur unter einer Persönlichkeitsstörung leidet, die unverkennbare Borderline-Symptome aufweist, kann es sich Autor Sascha Arango erlauben, mitunter mutwillig über alle möglichen Plausibilitätsmomente hinwegzusetzen; Sabrinas Verhalten muss nicht logisch sein. Wenn man das akzeptiert, ist "Borowski und der Engel" ein faszinierender Film (Regie: Andreas Kleinert); mehr Psychogramm als Krimi zwar, aber dennoch spannend, weil man sich natürlich fragt, ob die dunkle Heldin mit ihrer frechen Aktion durchkommt. Und weil Arango, Schöpfer unter anderem der unkonventionellen Sat.1-Ermittlerin Eva Blond, auch in seinem fünften Kieler-"Tatort" diverse kleine Überraschungen untergebracht hat, darf man sich unter anderem darüber freuen, dass sich Borowskis Chef Schladitz (Thomas Kügel) in einer Slapstickszene in den Fuß schießt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Filmisch ausgesprochen gelungen ist auch der Prolog, in dem sich das Klavierspiel des jungen Mannes von den Bildern löst. Und selbstredend ist Borowskis einführender Vortrag über das Böse im Menschen gewissermaßen die Gebrauchsanweisung für den Film, weil der Kommissar selbst dafür sorgt, dass die Täterin am Ende über seine These stolpert: "Der Feind des Mörders ist das Detail". Und wie Borowski das Finale einfädelt, ist nicht minder perfide als das Vorgehen der Täterin.