Kirche der Zukunft: Weniger Sorgen, mehr Geist

Foto: Thinkstock/iStockphoto/maurusone
Kirche der Zukunft: Weniger Sorgen, mehr Geist
Eine Bilanz der Interviewserie "Wie wollen wir glauben?"
Nach der Interviewserie "Wie wollen wir glauben? Gedanken über die Kirche der Zukunft" zieht unser Autor Martin Rothe Bilanz: Die evangelische Kirche in Deutschland schrumpft, aber sie wird nicht aussterben. Sie verändert ihre äußere Gestalt und braucht einen inneren Aufbruch. Die Interviewserie wird 2014 als Buch erscheinen.

24 Millionen Menschen gehören in Deutschland zur evangelischen Kirche. Zu einer Kirche mitten in einem epochalen Umbau. Einer Kirche, die derzeit hin und her gerissen ist zwischen Sendungsbewusstsein und Selbstzweifeln.

###mehr-links###

24 Persönlichkeiten habe ich von Pfingsten bis Weihnachten 2013 auf "evangelisch.de" interviewt. Ich wollte von ihnen wissen, was sie an der evangelischen Kirche schätzen, an ihr kritisieren, welche Vision sie von der Kirche der Zukunft haben.

Diplomatische Statements amtierender Kirchenführer waren diesmal nicht von Interesse. Quer- und Vordenker kamen zu Wort – Leute, die mit einem Bein in der Kirche, mit dem anderen außerhalb stehen. Menschen mit ungewöhnlichen Perspektiven auf die evangelische Kirche in Deutschland. Hier einige meiner Erkenntnisse aus den Gesprächen mit ihnen.

Schrumpfen mit Gelassenheit

Wer glaubt, Mitteleuropa sei mit seinen Säkularisierungstendenzen weltweit der Trendsetter, liegt kolossal daneben: Die überwiegend areligiösen Flecken Ostdeutschland und Tschechien sind im globalen Maßstab absolute Exoten. Weltweit gesehen haben protestantische Kirchen starken Zulauf: vor allem in China und den aufstrebenden Ländern Afrikas und Südamerikas. Von diesem Zulauf profitiert allerdings überwiegend die charismatische und pfingstlerische Strömung. Der Mainstream-Protestantismus, wie wir ihn aus Deutschland kennen, macht eine Schrumpfkur durch – hierzulande und global. Die Gründe dafür sind komplex. Einer davon ist die demografische Entwicklung hier in Mitteleuropa.

###mehr-artikel###

Dieser Schrumpfungsprozess treibt nicht wenige engagierte Protestanten schier in die Kirchendepression. Auch ich selbst war davon angekränkelt – aber davon haben mich meine Gesprächspartner kuriert. Denn die meisten von ihnen strahlten Gelassenheit aus. Sie nannten gute Gründe, warum wir nicht das Absterben dieser Kirche erleben, sondern lediglich einen – wenn auch gravierenden – Wandel ihrer Gestalt. Einem Umbau, wie es in den vergangenen 2000 Jahren schon einige gegeben hat.

In den Gesprächen schälte sich heraus, dass eine Frage von zentraler Bedeutung ist: Wird der unumgängliche Kirchenumbau weiterhin nur äußerlich vollzogen – durch bürokratische vorgegebene Einsparungen und Fusionen, diktiert von Organisationsentwicklern, die das Kirchenvolk und seine oft überlasteten Pfarrer mühsam "zum Jagen tragen" müssen? Oder bereitet sich die evangelische Kirche in ihrer Breite auf einen neuen geistlichen Aufbruch vor?

Ein- und Ausatmen

Man könnte die Frage auch anders formulieren: Verstecken die deutschen Protestanten weiterhin schamhaft ihr individuelles Glaubensleben? Oder beginnen sie, die Gemeinschaft anderer zu suchen, um ihr Leid zu teilen und ihre Glaubensfreude miteinander zu feiern? Trauen sie sich zu, wieder mehr Theologie zu wagen, die Schätze des christlichen Erbes fruchtbar zu machen für die Gegenwart? Ohne Milieuverengung, ohne Insidersprache und ohne vereinnahmende Arroganz?

Im Laufe der Interviews kristallisierte sich aus meiner Sicht immer mehr heraus, dass die evangelische Kirche heute – wie das Ein- und Ausatmen – eine Doppelbewegung braucht: zum einen eine Vertiefung und Verinnerlichung, zum anderen den Weg nach draußen, in die Weite, an die Ränder. Mich erinnert das an die zweifache Empfehlung des Augustinus: "Kehre in dich selbst zurück – und überschreite dich selbst!“

Vielen meiner Gesprächspartner war die Wendung nach außen besonders wichtig. Aber eben nicht im Sinne einer missionarischen Dauerwerbesendung. Sondern als wirklicher Dialog, mit Rückkanal wie bei den Sozialen Netzwerken.

Protestanten sind akut mangelernährt

Das bedeutet für die engagierten, kirchennahen Christen: Zuhören lernen. Aufrichtig interessiert sein an der Situation, an den Erfahrungen kirchendistanzierter Leute. Nicht erwarten, dass sie sich anpassen und das toll finden, was man selbst toll findet. Die Wahrheiten der Anderen wahrnehmen, ihre innere Logik verstehen. Herunterkommen vom hohen Ross, wonach eigentlich nur man selbst normal ist.

Das organisierte Christentum wird zwar von den Distanzierten mit Skepsis betrachtet. Aber der christliche Umgang mit existenziellen Fragen – Angst, Schuld, Tod, Liebe, Sinn des Lebens – stößt auch bei ihnen auf großes Interesse. Das zeigt unter anderem die Beliebtheit glaubwürdiger christlicher Persönlichkeiten, die sich weit außerhalb der Kirche bewegen. 

Es geht also nicht ums Senden, sondern ums Ausstrahlen. Das kann aber nur, wer täglich seine spirituellen Kraftquellen aufsucht. Hier diagnostizierten viele meiner Interviewpartner den deutschen Protestanten akute Mangelernährung. Für sie ist die Medikation klar: Wiederentdecken des Evangeliums, der Bibel, die eine Schatzkammer von Visionen für uns bereithält. Sammlung im Gebet, in der Meditation, in den vielfältigen Gottesdienstformen.

Aus dem Fenster in die Welt gefallen

Geistliche Fährtensucher vom mittelalterlichen Meister Eckhart bis zum früheren UN-Generalsekretär, dem Protestanten Dag Hammarskjöld, suchten immer nach der rechten Balance zwischen meditativem Leben und aktivem Engagement in der Welt.

Unsere römisch-katholischen Glaubensgeschwister tun das im Moment auch – nur von der anderen Seite der Waage her. Ähnlich wie schon Johannes XXIII. ist auch der neue Papst Franziskus dabei, das Fenster seiner Kirche zur Welt wieder zu öffnen. Wir mitteleuropäischen Protestanten sind – um im Bild zu bleiben – inzwischen fast aus dem Fenster gefallen. Wir dürfen uns wieder hochhangeln, um unseren Platz auf der Fensterbank einzunehmen: in der Mitte zwischen drinnen und draußen, immer mit frischem Wind um die Nase. Woher der heilige Geist weht, weiß man ja nie vorab.