"Ich bin doch auch noch da"

Foto: epd-bild/Hanna Eder
"Ich bin doch auch noch da"
Der Alltag mit einem behinderten Kind fordert nicht nur von Eltern viel Kraft und Zeit. Angebote wie die Ravensburger "Geschwisterzeit" stellen die Bedürfnisse von Geschwisterkindern in den Mittelpunkt. Ein Beitrag zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember.
03.12.2013
epd
Hanna Eder

Peter Pux weiß, wie es sich anfühlt, Teil einer "besonderen Familie" zu sein. Drei Jahre watr der Ravensburger Singer-Songwriter alt, als seine Schwester Anna mit einem Handicap zur Welt kam. Heute ist der 22-Jährige Botschafter der Ravensburger "Geschwisterzeit", einem erlebnispädagogischen Angebot für Kinder mit behinderten oder chronisch kranken Geschwistern. "Junge Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, ungezwungen mit Kindern über ihre Gefühle zu sprechen, sich auszutauschen und eine sorgenfreie Zeit unter Gleichgesinnten verbringen", sagt er.

Nach und nach entdeckt die Pädagogik in ganz Deutschland die Bedürfnisse von Geschwisterkindern. Bei Hüttenwochenenden, Kanutouren, Theaterbesuchen oder Seminaren kommen sie mit anderen Jungen und Mädchen in der gleichen Lage in Kontakt und entdecken eigene Stärken.

Zerrissen zwischen Helfenwollen und eigenen Bedürfnissen

Kathrin Baumeister (13) aus Ravensburg ist seit fünf Jahren bei der "Geschwisterzeit" dabei. Gemeinsam mit ihren drei Geschwistern und ihren Eltern genießt sie bei einem Erlebnistag für "besondere Familien" in einem Freizeitpark in Ravensburg den freien Eintritt. Dass die anderen Kinder das gleiche Schicksal teilten, "dass man es vergessen kann, dass es manchmal ein bisschen schwierig ist", das alles tue ihr gut. "Es ist schön, mal Dinge zu erleben, die sonst nicht so möglich wären", sagt auch ihre Schwester Lisa (9).

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"Geschwister eines Kindes mit Behinderung oder schwerer Krankheit entwickeln schon früh ein hohes Maß an Rücksichtnahme, Verantwortungsgefühl und Fürsorge", weiß Christoph Gräf von der Stiftung Liebenau, die als Träger die Geschwisterzeit unterstützt. "Nicht selten fühlen sich die Kinder überfordert und innerlich zerrissen zwischen 'Helfenwollen' und eigenen Bedürfnissen." Die Geschwisterzeit sei ein Ort, an dem diejenigen, die häufig zurückstecken müssten, mal im Mittelpunkt stünden.

"Geschwisterkinder sind gesunde Kinder. Daher es ist oft erst auf den zweiten Blick ersichtlich, dass sie Hilfe brauchen", sagt Irene von Drigalski, Geschäftsführerin der Novartis Stiftung FamilienBande. Die Stiftung hat eine Hotline und eine Datenbank angelegt, in der mehr als 200 Beratungs- und Hilfeangebote für Geschwisterkinder in ganz Deutschland zu finden sind.

Fortbildung zur "Fachkraft für Geschwister" in Augsburg

"Geschwisterkinder tragen oft mehr Verantwortung im Alltag, müssen eigene Wünsche hintanstellen und kümmern sich zudem häufig mit um das kranke Geschwisterkind", sagt Drigalski. Vieles ist nicht selbstverständlich: "Gemeinsam in den Urlaub fahren, Zeit mit den Eltern verbringen oder andere Kinder mit nach Hause bringen". Drigalski warnt jedoch davor, Geschwisterkinder nur als Opfer zu sehen: "Es sind Kinder, die oft herausragende soziale Fähigkeiten entwickeln."

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Mittlerweile wird bereits in die Ausbildung für Geschwisterbegleitung investiert: Das Institut für Sozialmedizin in der Pädiatrie in Augsburg (ISPA) hat im vergangenen Jahr in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen eine Fortbildung zur "Fachkraft für Geschwister" ins Leben gerufen. Das ISPA ist auch Entwicklungsinstitut für das Nachsorgemodell "Bunter Kreis", das sich an Familien mit schwerstkranken Kindern richtet. "Mit den Krankenkassen befinden wir uns derzeit in Gesprächen", sagt Thore Spilger vom ISPA zur Finanzierung der Geschwisterkinderarbeit.

Die Lebenshilfe in Bremen betreibt bereits seit acht Jahren eine Beratungsstelle für Geschwisterkinder. Sie veranstaltet Bildungsseminare, berät Familien und unterhält eine Geschwisterkinderbibliothek mit mehr als 4.000 Buchtiteln. "In den Familien dreht sich häufig sehr viel um das kranke Kind, Momente ungeteilter Aufmerksamkeit sind für Geschwisterkinder rar", sagt Leiterin Marlies Winkelheide. Sie setzt sich seit 31 Jahren für die Belange der Geschwisterkinder ein und machte mit Buchtiteln wie "Ich bin doch auch noch da" als eine der ersten auf das Thema aufmerksam. "Die Nachfrage nach Begleitung ist enorm, zu unseren Angeboten kommen Familien aus ganz Deutschland."

Geschwisterkinder halten ihre Wut zurück

Die Tatsache, eine Schwester oder einen Bruder mit Behinderung zu haben, sei dabei kein Grund für eine Therapie, sagt Winkelheide. "Es ist eine Lebenssituation, für die es Aufmerksamkeit braucht und geschützte Räume, in denen Kinder ihre Bedürfnisse und Gefühle äußern können". Geschwisterkinder hätten jedoch oft große Hemmungen, ihre Wut auf den chronisch kranken Bruder oder die Schwester mit Behinderung zu zeigen. Denn: "Wie kann man wütend sein auf jemanden, der nichts dafür kann, dass er so ist, wie er ist?"

Wie Winkelheide betont, führt die Teilnahme an Seminaren die Betroffenen aus der Einsamkeit heraus. Ohne Tabus dürften sie dort ihre Fragen stellen: Warum er und nicht ich? Darf ich glücklich sein, obwohl mein Bruder behindert ist? Warum benutzen Menschen "behindert" als Schimpfwort?

Geschwisterkind Peter Pux möchte nichts beschönigen. "Ganz klar, Anna stand oft im Mittelpunkt", erzählt er über seine Kindheit mit der behinderten Schwester. Aber durch den Umgang mit ihrer Beeinträchtigung habe er für sein Leben gelernt. "Ich bin offen geworden, tolerant, und ich habe gelernt, kleine Dinge wertzuschätzen." Und er hat ein Lied geschrieben über seine kleine Schwester: "Sister's Song."