Ein Zufall war das sicher nicht – höchstens in dem Sinne, dass den Gemeinden im Frankfurter Nordwesten etwas "zufiel", eine große Aufgabe nämlich. Das passierte am vergangenen Sonntag, als sie gemeinsam Gottesdienst feierten und anschließend Ola Oluokun zuhörten. Der Nigerianer, der schon länger in Deutschland lebt, berichtete von 22 Männern, die unter einer Brücke am Main campierten.
###mehr-info### Weil von allen Gemeinden Vertreter anwesend waren, konnte sofort ein Entschluss gefasst werden: Wir nehmen die Flüchtlinge auf. "Besser kann es gar nicht gehen", sagt Pfarrer Michael Stichling von der evangelischen Kirchengemeinde Niederursel im Rückblick, "da bekommt der Gottesdienst als Dienst wirklich eine ganz andere Bedeutung."
Was dann passierte, findet Stichling "hammerhart": "Die Gemeinde auf dem Riedberg, die haben das ins Facebook gestellt, und innerhalb von 15 Minuten war ein VW-Bus voll mit Kleidung, Matratzen, Decken – Wahnsinn!" Vikarin Rebekka Adler von der Dietrich Bonhoeffer-Gemeinde fuhr mit, um die Männer abzuholen, in vier Autos, direkt zur Kirche Cantate Domino. "Als wir hier ankamen, waren die Betten gemacht und das Essen stand auf dem Tisch." Jetzt ist der Vorraum der Kirche ein buntes Lager aus Matratzen und Feldbetten, alles ist ordentlich und sauber. Keine Kleidung liegt herum, keine Taschen.
Es ist Dienstagabend. Die Flüchtlinge kommen "nach Hause", hocken sich er erschöpft an den langen Tisch in der Kirche, reiben sich ihre müden Augen, warten aufs Abendessen und erzählen.
Ihre Geschichten klingen ähnlich: Sie kommen aus Ghana oder Nigeria, sind über Italien oder Spanien weiter nach Norden gezogen – in der Hoffnung, in Deutschland Arbeit zu finden. Darum geht es in erster Linie: "I need work", sagen sie verzweifelt, ungeduldig, manchmal flehend. Doch den meisten fehlt eine Arbeitserlaubnis. Ali Youssif zum Beispiel, ein Ghanaer, der lange in Spanien gelebt hat. Er sei "Zimmermädchen" von Beruf. "In Frankfurt gibt es viele Hotels. In manche bin ich hineingegangen und habe nach Arbeit gefragt", berichtet er. "Sie fragten mich, wo meine Arbeitserlaubnis sei. Ich solle zur Polizei gehen." Er redet sich in Rage, klingt frustriert, die Bürokratie macht ihn wahnsinnig. "Irgendwann war ich ganz durcheinander in meinem Kopf. Ich brauche jemanden, der mit mir geht und mir Schritt für Schritt zeigt, wie ich an eine Arbeitserlaubnis komme."
"In Deutschland war es dasselbe wie in Italien"
Issah Adama ist verheiratet, seine Frau und zwei Kinder leben in Ghana. In Spanien ging es ihnen eine Zeitlang gut, dann kam die Immobilienkrise, sie verloren ihr Haus an die Bank. "Ich entschloss mich, nach Deutschland zu gehen, um einen Job zu finden", erzählt Adama. Doch so einfach war das nicht – auch er schlief unter der Brücke und sammelte Flaschen, für 2 oder 3 Euro pro Tag. Das Geld reichte gerade so, um sich selbst etwas zu essen zu kaufen, sagt er. "Meine Frau versteht das nicht und sagt: Andere Leute schicken Geld aus Europa, aber du nicht." Adama ist 43 Jahre alt und sieht sein ganzes Leben den Bach runter gehen: das Haus, den Job, vielleicht bald auch die Ehe. "Meine Frau und ich reden kaum noch miteinander." Trotzdem wirkt Adama ruhig und entspannt. "Ich habe Hoffnung. Deutschland ist besser. Deutschland kann helfen."
Den jungen Ghanaer Abu Bakar – er weiß nur, dass er 1995 geboren wurde – hat es besonders schlimm getroffen. Er wuchs in Libyen auf, kam während der Revolution ins Gefängnis und konnte ausbrechen, so erzählt er. Übers Mittelmeer schaffte er es nach Lampedusa, nach einem Monat im Lager setzte man ihn auf die Straße. "Ich weiß nicht, wohin ich in diesem Europa gehen soll", sagt Abu Bakar hilflos. Ein Freund nahm ihn mit nach Deutschland. "Vielleicht würde mein Leben hier einfacher, dachte ich. Aber als ich nach Deutschland kam, war es dasselbe wie in Italien: Ich schlief unter der Brücke." Was die Christen hier im Frankfurter Nordwesten für ihn tun, kann der junge Mann kaum glauben. "Seit ich in Europa bin, habe ich noch nie an einem solchen Ort geschlafen", sagt er mit belegter Stimme. Doch der Schlafplatz in der Kirche ist nur eine Übergangslösung. Wie soll es danach weitergehen? Abu Bakar weiß es nicht. Was er gelernt hat? Football spielen und mit arabischen Buchstaben schreiben. Englisch hat er auf der Straße aufgeschnappt - erstaunlich gut zwar, aber für eine Karriere in Europa wird es wohl nicht genügen. "Ich bin total durcheinander. Ich habe keine guten Voraussetzungen. Wenn du keine guten Voraussetzungen hast, kannst du gar nichts planen."
Issifu Adam (30) hat immerhin einen brauchbaren Beruf: Er ist Pflasterer, kann Gehwege und Fußböden bauen und würde am liebsten mehr lernen – Straßenplanung zum Beispiel. Adam verließ seine Heimat Ghana, ging nach Libyen, floh von dort, als der Krieg ausbrach und kam nach Italien. Dort waren zu viele Menschen arbeitslos. "Ich musste einfach aus Italien weg, egal in welches Land. Ich habe gehört, dass das Leben in Deutschland nicht leicht ist. Aber es ist überall nicht leicht." Adam versuchte es in Frankfurt, bekam aber zu hören: "Mit diesen Dokumenten können Sie hier nicht arbeiten."
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Auf die Frage, welche Behörden sie denn um Hilfe gebeten haben, antworten die Flüchtlinge ausweichend. Unmöglich für sie, herauszufinden, wer zuständig ist. Die Ausländerbehörde? Das Sozialamt? Die Integrationsdezernentin? Nein: Die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen. Pressesprecherin Gabriele Fischer erklärt: "Wer hier ankommt, der kriegt ein Bett." Aber dann: "Auf dem Gelände befindet sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, da werden die Flüchtlinge angehört. Wenn sie aus Lampedusa kommen, dann kommen die aus einem sicheren Herkunftsland." Das bedeutet Abschiebung. Und das wissen die Afrikaner. Also meiden sie die Behörden und gehen lieber Flaschen sammeln.
"Wir merken, dass sie gute Christen sind"
In ihrem Schlafraum in der Kirche Cantate Domino steht eine Figur des Gekreuzigten, hell von einer Lampe angestrahlt. Wie fühlt sich das wohl für einen Muslim an? "Das ist gut", sagt Issifu Adam. "Selbst im Koran steht der Name von Jesus Christus, er heißt dort Isa. Da steht: Alles, von dem Jesus sagt: 'Tut das!', wenn du es tust, kommst du in den Himmel." So ähnlich steht es in der Bibel am Ende des Matthäusevangeliums. Hier verstehen sich die Religionen, und Issifu Adam begreift am eigenen Leib, was Nächstenliebe ist: "Wir dürfen hier für einige Zeit bleiben, ich weiß das sehr zu schätzen. Wir merken, dass sie gute Christen sind."
Gegen 20 Uhr schieben vier dieser "guten Christen" einen riesigen Suppentopf auf einem Rollwagen in den Kirchenraum. Eine Konfirmandengruppe aus Niederursel hat den ganzen Nachmittag Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln geschnibbelt. Es gibt Eintopf. Pfarrer Michael Stichling teilt aus und ruft: "Praise the Lord!" – das war das Tischgebet. "Thank you very much!" sagen die Flüchtlinge und greifen zum Löffel, sichtlich froh über das warme Essen. Auch Pfarrer Stichling und Gina Echt, Mitglied im Kirchenvorstand von Cantate Domino, essen mit. "Es ist wirklich das erste Mal, dass ich sowas erlebe", sagt Gina Echt, "dass fünf Nachbargemeinden sagen: Das packen wir zusammen an. Plötzlich ist wieder wichtig, was uns verbindet. Christliches Handeln in Gemeinschaft, weil klar ist: Einer kann es nicht. Und es ist so ein gutes Gefühl, Teil davon zu sein. Großartig!"
Momentan trägt die Welle der Solidarität und Begeisterung alle Beteiligten. Gleichzeitig herrscht "kreatives Chaos", wie Pfarrerin Sabine Fröhlich von Cantate Domino es ausdrückt. Die Unterbringung in der Kirche kann nur eine Übergangslösung sein. Als nächstes sollen die Männer in mehrere Gruppen aufgeteilt werden – doch niemand hat momentan einen festen Plan. Die evangelisch-methodistische Kirche ist bereit, sechs oder sieben Männer aufzunehmen, und auch die Dietrich Bonheoffer-Kirche macht das möglich. "Obwohl wir eigentlich keinen Raum in der Herberge haben", sagt Pfarrer Ulrich Schaffert, "sondern eine Baustelle. Das Gemeindehaus ist abgerissen, es findet alles in der Kirche statt. Trotzdem haben wir gesagt: Wir stehen jetzt zu unserer Verantwortung. Mein Plan ist, die Empore freizuräumen. Es geht ja in erster Linie darum, dass die nicht mehr unter der Brücke schlafen müssen."
Wie es weitergeht, soll am Freitag an einem runden Tisch mit Vertretern von Stadt und Kirche besprochen werden. "Wir merken jetzt, dass unser Quartier unwürdig ist", sagt Pfarrerin Sabine Fröhlich. "Es gibt ja keine Duschen. Wir müssen eine Immobilie finden, wohin die ganze Gruppe umziehen kann. Möglichst zentral." Pfarrer Schaffert schlägt die leer stehende Weißfrauenkirche vor.
Auch wenn vieles noch ungeklärt ist: Frankfurt ist aufgewacht. Christen haben verstanden, dass Menschen ihre Hilfe brauchen, und sie fragen ihrerseits auch die Stadt nach deren Verantwortung. "Lampedusa" ist nicht mehr nur im Fernsehen, sondern hier in Cantate Domino. "Plötzlich bist du hautnah mittendrin!", sagt Gina Echt und schüttelt ungläubig den Kopf, während sie mit den Afrikanern in der Kirche ihre Suppe löffelt.