"Gott lässt zu, dass es intersexuelle Menschen gibt"

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"Gott lässt zu, dass es intersexuelle Menschen gibt"
"Männlich und weiblich erschuf er sie", heißt es in der Bibel. Doch die Wirklichkeit ist manchmal komplizierter. Nicht immer lässt sich das Geschlecht eines Menschen biologisch eindeutig festlegen. Ab dem 1. November berücksichtigt ein deutsches Gesetz diese Vielfalt, zumindest ein kleines Stück weit. Beim Umgang mit der Intersexualität gibt es allerdings große Unsicherheiten.

"Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" – das werden frisch gebackene Eltern immer wieder gefragt. So leicht die Frage erscheint, so schwierig ist sie doch manchmal zu beantworten. Eines von 4.500 Babys komme ohne eindeutiges Geschlecht auf die Welt, sagt die Sexualforscherin Hertha Richter-Appelt. Intersexualität, wie Mediziner dieses Phänomen nennen, gibt es in vielen Varianten. Beispielsweise sieht ein Säugling manchmal aus wie ein Mädchen, hat aber einen männlichen Chromosomensatz. Bei anderen ist das Erscheinungsbild schon von Anfang an zwischengeschlechtlich.

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Während das preußische Allgemeine Landrecht im "Zwitterparagrafen" die Zwischengeschlechtlichkeit berücksichtigte, gab es diese Uneindeutigkeit im deutschen Gesetz seit 1949 nicht mehr. Eltern mussten sich entscheiden, ob ihr Kind männlich oder weiblich ist. Das ändert sich am 1. November 2013. Ohne große Notiz der Öffentlichkeit hat der Bundestag das Personenstandsgesetz geändert: "Wenn ein Kind weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann, wird die Angabe in das Geburtenregister weggelassen", heißt es ab sofort.

"Ich denke, dass die Gesetzesregelung ein Anfang ist", sagt Richter-Appelt, "aber sie wird in keinem Fall ausreichen." Michael Wunder, Psychologe und Mitglied im Deutschen Ethikrat, sieht das ähnlich und kritisiert: "Das Gesetz nimmt Druck von den Eltern, ist aber halbherzig." Der Ethikrat hatte im Februar 2012 Stellung zum Thema Intersexualität bezogen. "Wir haben vorgeschlagen, neben männlich und weiblich 'anderes' als weitere Geschlechtsoption aufzunehmen", sagt Wunder. Die Option, nichts einzutragen, sei falsch. "Kein Eintrag sieht aus wie kein Geschlecht. Aber diese Menschen haben natürlich ein Geschlecht."

Viele Fragen bleiben unbeantwortet

Zudem bleiben viele offene Fragen vorerst unbeantwortet: Müssen sich die Betroffenen irgendwann für ein Geschlecht entscheiden? Dürfen sie heiraten? Oft wird die Zwischengeschlechtlichkeit auch erst in der Pubertät entdeckt. Was ist mit diesen Menschen? Nach jetzigem Stand greift das Gesetz bei ihnen nicht. Ganz zu schweigen von den intersexuellen Menschen, die heute bereits auf der Welt sind und sich einen anderen Personeneintrag wünschen.

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Auf diese Fragen können und müssen Antworten gefunden werden. Doch es gibt noch eine gewichtige Kritik an der Gesetzesänderung. Sie kommt vor allem von Verbänden wie "zwischengeschlecht.org". Sie fürchten, dass es mit dem Gesetz zu mehr Genitalverstümmelungen kommen wird. Bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts versuchten Mediziner, fehlende Geschlechtseindeutigkeit durch Operationen und hormonelle Behandlung zu beheben.

Diese Praxis kritisieren intersexuelle Menschen schon lange. Nicht nur, weil das angepasste Geschlecht nicht zwangsläufig zum eigenen Empfinden passt. Viele der Behandlungen sind stark traumatisierend – körperlich und seelisch. Legen Ärzte etwa eine künstliche Vagina an, soll diese nicht wieder zusammenwachsen. Deshalb werden schon Kleinkindern unter Schmerzen Gegenstände eingeführt. "Es ist wie sexuelle Gewalt gegen Kinder", sagt Claudia Janssen, Leiterin des Studienzentrums für Genderfragen in Kirche und Theologie der EKD.

Jahre der psychischen und körperlichen Gewalt

Lucie Veith, Vorsitzende* von Intersexuelle Menschen e.V., unterstützt die Gesetzesänderung als ersten Schritt. Doch auch sie hat Bedenken: "Man kann nicht von der Hand weisen, dass der Normalisierungsdruck auf Eltern zunimmt", sagt Veith. Es bräuchte jedoch den Respekt vor dem Leben und der Schöpfung. Claudia Janssen sieht in dem geänderten Personenstandsgesetz eine wichtige Zäsur und die Möglichkeit, aktiv zu werden: "Dazu gehört ein Schuldeingeständnis, über all die Jahre an der psychischen und physischen Gewalt beteiligt gewesen und nicht vehement dagegen vorgegangen zu sein. Das gilt auch für die Kirchen." Mit der Änderung werde zudem sichtbar, was offiziell nicht vorkommen durfte. "Die Eindeutigkeit von zwei Geschlechtern ist nun offiziell aufgehoben", sagt die Theologin.

"Es sind auch nicht drei oder fünf Geschlechter", sagt Hertha Richter-Appelt. Das biologische Geschlecht setze sich aus verschiedenen Aspekten – wie den Chromosomen, den Geschlechtsteilen und den Gonaden – zusammen. Ganz verschiedene Gene seien dafür verantwortlich. "Man könnte sagen, es gibt Tausende Geschlechter", sagt die Forscherin. Und das ist kein Zufall, sagt Michael Wunder vom Ethikrat: "Gott lässt zu, dass es intersexuelle Menschen gibt."

Die Kirchen haben bisher meist geschwiegen

Claudia Janssen sieht deshalb die Kirche in der Pflicht: "Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Normierung ist groß. Hier braucht es den Mut der Kirche. Sie muss die Ängste wahrnehmen – und sie nehmen", sagt sie. In Gemeinden könne das heißen, behutsam anzusprechen, dass es eine Vielfalt von Geschlechtern gebe. "Das ist keine Bedrohung, das ist unsere Wirklichkeit. Da haben wir als Kirche biblisch und theologisch viel zu sagen", sagt Janssen. Trotzdem haben die Kirchen zu diesem Thema vor allem geschwiegen. Auf einer Fachkonferenz zum Thema Vielfalt der Liebesbeziehungen und den Herausforderungen für Theologie und Kirche im Juni sagte Lucie Veith: "Die Kirchen haben intersexuelle Menschen aus ihrem Gedächtnis verloren."

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Im Gegensatz dazu sieht Claudia Janssen die Bibel. So habe Gott den ersten Menschen nach seinem Bilde geschaffen. Erst umfasste Adam - das Menschenwesen - alle Geschlechter. Dann wurde es in Mann und Frau, Adam und Eva, geteilt. "Intersexuelle Menschen sind diesem ersten Adam viel näher als dem getrennten", sagt Janssen. Was bedeutet das für das 1. Buch Mose, wo es heißt "als männlich und weiblich erschuf er sie"? "Es wäre spannend, wenn man diese Stelle so liest, dass in jedem Menschen beides steckt, Männlichkeit und Weiblichkeit", sagt Janssen.

"Religiöse intersexuelle Menschen beschäftigen sich ebenfalls mit der Frage und ihrer Rolle in Gottes Schöpfung. Sie sehen sich als Teil ihrer Vielfalt und von Gott gewollt", schreibt Claudia Lang in dem Buch "Intersexualität – Menschen zwischen den Geschlechtern." Die Autorin zitiert die Organisation "Intersex Support Group International", ein Zusammenschluss christlicher Intersexueller: "Wir wissen, dass Gott keinen Fehler gemacht hat, als Er uns geschaffen hat", sind sie überzeugt.