"Die chinesische Prinzessin" aber ist völlig anders, und das, obwohl die Regie Lars Jessen ("Die Nacht, als Bobby Ewing starb") oblag, der dank norddeutscher Komödien wie "Butter bei die Fische" oder "Fischer sucht Frau" ein ausgewiesener Experte für trockenen Humor ist. In diesem Film jedoch gibt es keinen einzigen flotten Spruch von Boerne und keinerlei Frotzeleien zwischen den beiden Hauptfiguren. Selbst seine kleinwüchsige Assistentin (ChrisTine Urspruch) behandelt der Professor mit Respekt. Am Ende nennt er sie sogar "Frau Haller"; vermutlich zum ersten Mal in der elfjährigen Geschichte des "Tatort" aus Münster.
Allerdings hat "Alberich" auch entscheidenden Anteil daran, dass Boerne seinen Kopf so eben noch aus der Schlinge ziehen kann: Nach einer Vernissage hat Boerne die regime-kritische chinesische Künstlerin Songma abgeschleppt, um ihr die Pathologie zu zeigen. Am nächsten Morgen liegt sie mit aufgeschnittener Kehle auf dem Seziertisch; und Boerne, offenbar völlig berauscht vom gemeinsam konsumierten Kokain, hält die Tatwaffe in der Hand. Thiel hat zwar einen dringend verdächtigen Chinesen dingfest gemacht, doch der Mann hat einen Diplomatenpass.
Triaden und Tiraden
Prompt taucht die große Politik auf und beschimpft den Polizisten, weil er den angeblichen Kulturattachée trotzdem verhaftet hat. Der Kommissar muss den Chinesen umgehend wieder laufen lassen, und Boerne, der sich an nichts erinnern kann, wandert ins Gefängnis. Zu seinem Glück findet Alberich raus, dass ihm das Rauschgift verabreicht wurde, als er ohnmächtig war, aber frei kommt er bloß, weil Thiel von seiner Unschuld überzeugt und auf seine Hilfe angewiesen ist: Sah es zunächst so aus, als habe sich die chinesische Regierung eine Dissidentin vom Hals geschafft, mischen plötzlich die Triaden mit. Offenbar hat die Künstlerin mit der chinesischen Mafia zusammengearbeitet.
Eine politische Dimension hat die Handlung trotzdem, zumal die Verweise auf angeblich islamistische Uiguren für zusätzliche Brisanz sorgen. Das Drehbuch von Grimme-Preisträger Orkun Ertener ("KDD") mag in komödiantischer Hinsicht für einen "Tatort" aus Münster eher sparsam sein, aber dafür ist es von bemerkenswerter Komplexität.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Heitere Momente bietet allein ein kurzer Nebenstrang zu Beginn: Nach einer feuchtfröhlichen gemeinsamen Geburtstagsfeier hat auch Thiel einen Filmriss und fragt sich bang, ob er seiner Mitarbeiterin Nadeschda (Friederike Kempter) womöglich zu nahe getreten ist.
Ansonsten aber ist "Die chinesische Prinzessin" ein todernster Krimi, bei dem man vor lauter Tiraden und Triaden zuweilen auch mal den Überblick verliert. Viel Vergnügen bereiten diesmal nicht die Dialoge, sondern Erteners Liebe zum Detail, darunter die Verweise auf die Puccini-Oper "Turandot"; auch dort geht es ja um eine chinesische Prinzessin. Und wenn Thiel und Boerne am Ende erschöpft, aber dennoch schlaflos der berühmten Arie "Nessun dorma" lauschen, entsteht ein Moment schweigsamer Nähe, der die beiden stärker zu Freunden macht als ihre früheren gelegentlichen Respektsbekundungen.